SPD entdeckt das Dorf neu

Wiesbaden. Viereinhalb Jahrzehnte nach Georg August Zinns großem Hessenplan will die SPD den ländlichen Raum erneut in den Fokus nehmen. Wir sprachen mit SPD-Landes- und Fraktionschef Thorsten Schäfer-Gümbel.
Herr Schäfer-Gümbel, Sie haben noch mehr als dreieinhalb Jahre Opposition vor sich. Was motiviert Sie, jeden Tag von Birklar bei Lich nach Wiesbaden zu fahren, wohl wissend, dass sie dort nichts umsetzen können?
Schäfer-Gümbel: Das sehe ich so nicht. Ich kann keine Gesetze durchsetzen, weil wir keine parlamentarische Mehrheit haben. Aber politische Gestaltung ist deutlich mehr. Als Vorsitzender der SPD kann ich natürlich durch Ideen Politik gestalten. Das ist das, was mich antreibt, es macht mir Spaß mit Menschen zu diskutieren. Nach dem verheerenden Wahlergebnis 2009 ist es natürlich ein langer Weg zum Neuaufbau, aber er funktioniert, weil es Zuspruch gibt. Deshalb brauche ich morgens kein besonders Motivationsprogramm.
Zur PersonNach dem Debakel von Andrea Ypsilanti übernahm Schäfer-Gümbel die Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl 2009 sowie auch den Landes- und Fraktionsvorsitz der SPD. Der 40-jährige Vater dreier Kinder hat es geschafft, Ruhe in die Partei zu bringen. Schäfer-Gümbel, der in Oberstdorf/Allgäu geboren wurde, hat Agrar- und Politikwissenschaften in Gießen studiert. Er lebt mit seiner Familie in Lich-Birklar und ist ein Fan des FC Bayern. (wet)Am Sonntag wurde Schwarzgelb in Nordrhein-Westfalen abgewählt, motiviert Sie das trotz der langen Oppositionszeit in Hessen?
Zur Person
Nach dem Debakel von Andrea Ypsilanti übernahm Schäfer-Gümbel die Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl 2009 sowie auch den Landes- und Fraktionsvorsitz der SPD. Der 40-jährige Vater dreier Kinder hat es geschafft, Ruhe in die Partei zu bringen. Schäfer-Gümbel, der in Oberstdorf/Allgäu geboren wurde, hat Agrar- und Politikwissenschaften in Gießen studiert. Er lebt mit seiner Familie in Lich-Birklar und ist ein Fan des FC Bayern. (wet)
Schäfer-Gümbel:Klar motiviert der Wahlerfolg von Hannelore Kraft, denn der ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern erwächst aus einer konsequenten inhaltlichen Arbeit in der Opposition. Deshalb: Herzliche Glückwünsche nach NRW. Und dieses Misstrauensvotum gegen Schwarzgelb motiviert uns zusätzlich, denn es gibt für diese Politik keine gesellschaftliche Mehrheit. Dazu die Alternative zu formulieren, ist unsere Aufgabe.
Die SPD in Hessen will die Entwicklung des ländlichen Raumes zu einem ihrer Schwerpunktthemen machen. Klingt nicht gerade nach einem Schlagzeilen-Thema.
Schäfer-Gümbel: Wir machen Politik nicht nur unter der Fragestellung, was wahrgenommen wird von allen Wählern, sondern danach, was die realen Probleme sind. Nur ein Beispiel: Im Vogelsbergkreis gibt es 180 Orts- und Stadtteile, von denen 120 heute schon weniger als 500 Einwohner haben. Dort werden diese Probleme ganz schnell sicht- und erlebbar. Häuser stehen leer, es gibt keine Breitbandversorgung, keine Ärzte, keine Läden, keine Kindergärten, keine Schulen und das Problem der Mobilität. Ähnliche Situationen gibt es in Nordhessen und im Odenwald.
Damit müssen wir uns beschäftigen, selbst wenn es nicht die Mehrheit der Menschen in Hessen betrifft.
Und was ist mit den Städten?
Schäfer-Gümbel: Unser Oberthema lautet „Hessen gerecht“. Für die Städte werden wir auch noch ein Konzept vorlegen, wir wollen da nichts gegeneinander ausspielen. Aber die schleichende Zentralisierungsstrategie der Landesregierung hat mit dafür gesorgt, dass die Probleme für den ländlichen Raum größer geworden sind. Wir wollen, dass es in Hessen überall gleichwertige Lebensverhältnisse gibt, so wie die Verfassung es vorsieht. Gleichwertig heißt aber nicht gleich, deshalb brauchen wir eine eigene Strategie für den ländlichen Raum.
Werden Sie etwas konkreter.
Schäfer-Gümbel: Wir wollen, dass die Dörfer nicht nur schöner, sondern auch lebenswerter werden. Es geht also nicht um Blumenkübel, sondern um Arbeitsplätze, um Mobilität, um die soziale Aufrüstung der Dörfer. Die Landesregierung sieht das Thema nicht. Sie konzentriert sich ausschließlich auf Ballungsräume. Die Dorferneuerung dagegen ist weder finanziell noch konzeptionell so ausgestattet, den Herausforderungen gerecht zu werden.
Was wollen Sie ändern?
Schäfer-Gümbel: Wir wollen die Dorferneuerung mit der Energiewende verbinden. Sie schafft Arbeit und Ausbildung, berufliche Perspektiven also, die den Wegzug verhindern. Das Thema Energie- und Wärmeversorgung ist auf dem Land enorm wichtig, weil viele Baubestände älter sind als in den Städten. Man muss integrierter denken, ein paar kleine Programme hier und da reichen nicht.
Welche Probleme wollen Sie noch angehen?
Schäfer-Gümbel: Die Breitbandversorgung muss funktionieren, sonst ist der ländliche Raum von vorneherein benachteiligt. Ich bin sehr dafür, dass die Kommunen sich schlicht selbst darum kümmern und sich nicht auf die Telekom oder andere verlassen müssen. Es wird sich für sie rentieren. Ganz wichtig ist auch ein Masterplan Gesundheit. Wir müssen die Arbeitsbedingungen der Ärzte auf dem Land attraktiv, das heißt auch familienfreundlich machen, sonst will dort keiner hin. Diesem Problem müssen wir uns nicht irgendwann stellen, es ist längst da.
Ein großes Thema dürfte auch die Mobilität sein.
Schäfer-Gümbel: Beim ÖPNV werden wir ganz große Räder drehen müssen. Das heißt aber nicht, dass wir große Strukturen in Form fester Netze schaffen können, das hieße viel Luft durch die Gegend fahren. Es muss flexiblere Lösungen geben, etwa Anrufsammeltaxis, ob übers Netz oder übers Telefon. Dies alles zusammen genommen macht auch den wesentlichen Unterschied von uns zur CDU und FDP deutlich: Wir wollen den Raum aus sich heraus entwickeln. Die Landesregierung glaubt es reicht, Autobahnen zu bauen und der Rest kommt von allein. Aber so funktioniert es nicht.
Ohne Geld funktioniert auch nichts. Beispiel: Sie wollen den Etat der Dorferneuerung von 2,4 Millionen auf zehn Millionen Euro erhöhen. Woher soll das Geld angesichts des Sparzwangs kommen?
Schäfer-Gümbel: Wir haben schon bei der letzten Haushaltaufstellung nur Anträge gestellt, die gegenfinanziert waren. Natürlich wird über die Deckungsvorschläge gestritten, denken Sie an die Grundwasserabgabe, aber wir satteln nichts drauf. So werden wir es auch weiter machen, denn wir müssen die Verschuldungssituation in den Griff bekommen. Jetzt ist da aber erst einmal die Landesregierung gefragt, die seit elf Jahren am Ruder ist und es nicht in den Griff bekommt.
Deren Sparvorschläge wie die 30 Millionen aus dem Hochschuletat passen der SPD aber auch nicht.
Schäfer-Gümbel: Nein, die sind auch falsch. Man muss Schwerpunkte setzen bei zukunftsträchtigen Themen und wissen, wohin man im Land will. Wir werden diese Debatte führen. Die Landesregierung dagegen mogelt sich darum herum. Sie hat erst den Steuersenkungen im Bund zugestimmt, die Hessen 100 bis 150 Millionen Euro kosten. Dann kürzt sie ausgerechnet bei Schulen und Hochschulen. Sie müsste denen kein Geld wegnehmen, wenn sie den Steuersenkungen nicht zugestimmt hätte. Und die zehn Millionen für die Dorferneuerung gäbe es dann auch.
Von Petra Wettlaufer-Pohl