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Betroffener aus Kassel berichtet: Vergewaltigung in der Umkleidekabine der Grundschule

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Von: Claudia Feser

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Paul, der in Kassel lebt, ist als Kind jahrelang sexuell missbraucht worden. „Die Rückkehr ins Leben ist sehr schwierig“, sagt er heute.

Kassel –  In jeder Schulklasse sind ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen – das teilt Bundesfamilienministerin Lisa Paus anlässlich des Tags zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt mit. Dieser findet am Freitag, 18. November, europaweit statt. Ein Betroffener, der mittlerweile in Kassel wohnt, schildert seine Erlebnisse, die sich in Nordrhein-Westfalen ereignet haben.

Einer der Betroffenen ist Paul. Sein Geist hat über Jahre verdrängt, was Körper und Seele erleben mussten. Paul ist als Kind sexuell missbraucht worden: Er wurde vergewaltigt, jahrelang. Heute ist Paul 32 Jahre alt – wir nennen ihn Paul, um ihn zu schützen.

Die erste Erinnerung an den sexuellen Missbrauch überfiel ihn vor zehn Jahren. Mit Panikattacken fing es an. Paul wusste nicht, was mit ihm los war und holte sich therapeutische Hilfe. „Während einer Traumatherapie kamen grausame Dinge mit einer solchen Wucht hoch“, berichtet Paul, „das war übermächtig.“ In seiner ersten Erinnerung sitzt er in einem Keller in der Nachbarschaft, der Familienvater des Hauses ist da. „Er hat einen Kinderporno mit mir produziert.“ Paul erinnert sich, dass ein etwa gleichaltriges Mädchen im Raum war, das er mit einem Gegenstand vergewaltigen musste. Paul war damals sechs oder sieben Jahre alt.

Paul ist in einer 300 000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Die Familie lebte in einer Neubausiedlung, mit vielen Kindern in der Nachbarschaft. „Eigentlich ideal für Kinder“, sagt Paul, für den diese Welt gespalten war: in eine heile Welt und in eine Hölle.

Betroffener aus Kassel schildert Erlebnisse mit sexualisierter Gewalt

Manchmal wurde er von dem Familienvater aus der Nachbarschaft in eine andere Wohnung gefahren, im Auto musste er sich unter einer Decke verstecken, damit er nicht gesehen wird. Dort warteten Männer auf Paul, die ihn oral und anal penetrierten. Natürlich habe Paul versucht, sich zu wehren. „Aber wenn vier Hände nach dir greifen und dich am Tisch fixieren, dann schaltet das System auf Totstellen.“ Und Paul sagt: „In diesen Momenten wäre ich gerne gestorben.“ Suizidale Gedanken habe er während seiner Jugendzeit oft gehabt. Die Ursache kennt er erst, seit die Erinnerungen zurückkommen.

Dass Paul heute darüber sprechen kann, sei seiner guten therapeutischen Begleitung zu verdanken, sagt er. Gefasst und mit reflektierten, achtsamen Worten spricht er darüber, aber seine Finger zittern leicht, an seinem Hals zeichnen sich im Laufe des Gesprächs rote Flecken ab. Er war kein Rabauke als Kind, kein Draufgänger. „Ich war ein blonder, sehr sensibler und beziehungshungriger Junge“, sagt Paul. Als Jüngster von drei Brüdern sei er als Kind immer sehr dankbar für individuelle Aufmerksamkeit gewesen. „Und das zieht solche Täter an.“

Der erste Mensch, der ihn sexuell missbraucht hat, war eine Frau. Es war die Leiterin seines Kindergartens, der unter kirchlicher Trägerschaft war, berichtet Paul. Er erinnert sich, dass er von der Frau „zu angeblichen Tests“ vom Gruppenraum ins Leitungszimmer geführt wurde. „Dort stand eine schöne bunte Kugelbahn, keine aus Holz, sondern ein Stecksystem aus Plastik.“ Sie war für die Kita-Kinder tabu. Aber wenn Paul tat, was die Kitaleiterin von ihm verlangte, durfte er mit der Kugelbahn spielen, als Belohnung. Paul musste sich vor der Leiterin ausziehen, sie hat sich an seinem Anblick erregt.

Aktionstag: Betroffener aus Kassel erlebte sexualisierte Gewalt in Grundschule

In der Grundschule ging der Missbrauch für ihn weiter. Paul sieht sich mit dem Schulleiter, der sein Sportlehrer war, über den leeren Schulhof gehen. „Wenn alle Kinder im Unterricht sind, dann ist ein leerer Schulhof ganz komisch.“ Paul war damals Erstklässler, und der Lehrer holte ihn aus dem Unterricht und führte ihn zum Parkplatz zu einem Auto. Paul erinnert sich an Situationen, in denen der Sportlehrer in der Lehrerumkleide „oral übergriffig“ wurde. „Mein großes Glück war, dass dieser Lehrer in den Ruhestand ging, als ich in der dritten Klasse war.“ Dann hörte der sexuelle Missbrauch auf.

Zuhause schwieg Paul, er habe keine Worte dafür gehabt, sagt er heute. Aber seine Schulzeugnisse dokumentieren Verhaltensänderungen. Früher sei er ein sehr zurückhaltender Junge gewesen. Anfang der vierten Klasse rebellierte er mit sozial benachteiligten Jungen, wie er sagt, baute Mist mit ihnen, verweigerte die Schule, schrieb schlechte Noten. „Ich galt als Problemkind.“

Pauls Körper zeigte Reaktionen: Er war sehr lange Bettnässer, bildete Abszesse am ganzen Körper aus. Seine Eltern seien mit ihm bei vielen Ärzten gewesen. „Aber niemand hat nachgefragt – dabei war somatisch so viel da bei mir.“ Keiner habe sich die Zeit für ihn genommen, sagt Paul im Rückblick.

Die Zeit, als seine Erinnerungen zurückkamen, beschreibt er „als schwierige Jahre für uns alle“. Er brach den Kontakt zu seinen Eltern ab, „weil ich nicht unterscheiden konnte, woher die Gewalt kam in meiner Kindheit und Jugend, da hat mich jeder Kontakt zu den Eltern getriggert.“ Vor anderthalb Jahren hat er sich dann seinen Eltern anvertraut. Es war ein Schock für sie.

Umkleidekabinen können Tatorte von sexualisierter Gewalt.
Tatort Umkleidekabine: Paul wurde von seinem Sportlehrer in der Umkleidekabine vergewaltigt. Unser Symbolbild, das fern von klischeehaften Darstellungen zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist, zeigt eine ähnliche Umkleide. © Barbara Dietl/UBSKM

Betroffener aus Kassel: „Das Schlimmste habe ich hinter mir“

Stück für Stück versuchten sie gemeinsam, die Erinnerungen einzuordnen. Wer der Mann aus der Nachbarschaft ist, wissen die Eltern nicht. Beim Kindergarten hatten die Eltern ein komisches Gefühl, sagte die Mutter. Sie habe das Gespräch gesucht, sei dabei aber von der Leiterin und dem für die Kita zuständigen Pfarrer abgeschmettert worden. Paul habe als Kind viel gemalt: immer nur Vulkane, einen nach dem anderen. „Ich habe Kassette gehört und dabei gemalt – da war ich in einer anderen Welt und habe mich gut gefühlt.“

Hat Paul Anzeige gegen die Täter erstattet? Nein. Im juristischen Sinne seien seine Erinnerungen nicht tauglich für eine Anzeige. Opfer sind in der Beweispflicht. „Ich wäre froh, wenn Filme von mir auftauchen würden, dann könnte ich den Missbrauch beweisen.“

Paul lebt seit zehn Jahren in einer festen Beziehung, seine Freundin war in den schweren Jahren eine wichtige Stütze an seiner Seite. Auch als die Erinnerungen ihn überfielen und er niemanden ertragen konnte. „Das Schlimmste habe ich aber hinter mir“, sagt Paul, gleichwohl sei erfahrener sexueller Missbrauch eine Lebensaufgabe. „Die Rückkehr ins Leben ist sehr schwierig.“ (Claudia Feser)

218 Polizisten waren im vergangenen Monat in Hessen im Einsatz, um Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Den 62 Beschuldigten werden Herstellung, Besitz und Verbreitung von Kinder- beziehungsweise Jugendpornografie oder sexueller Missbrauch von unter 18-Jährigen zur Last gelegt. Zwei der Beschuldigten kommen aus Kassel.

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