Heimkinder: Uni erforscht Leid

Kassel. Psychische und physische Demütigungen, Lieblosigkeit bis hin zu sexuellem Missbrauch – viele Kinder und Jugendliche, die in den 1950er- bis 1970er-Jahren in Heimen aufwuchsen, leiden noch heute unter den Folgen. 14 000 Akten in einer Länge von 1,4 Kilometern lagern im Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) in Kassel, die von diesen Schicksalen erzählen.
Vor diesem Hintergrund ist dem LWV an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung gelegen. Hierfür wurden zwei Professorinnen von der Uni Kassel gewonnen: Die Juristin Dr. Theresia Höynck und die Soziologin Dr. Mechthild Bereswill. Sie sollen zusammen mit vier wissenschaftlichen Mitarbeitern die Situation in den Kinder- und Jugendheimen des LWV von 1949 bis 1973 erforschen. „Damit erkennen wir das Leid der Heimkinder noch einmal öffentlich an“, sagte LWV-Direktor Uwe Brückmann gestern bei einer Pressekonferenz.
Der LWV übernahm zu jener Zeit neun Kinder- und Jugendheime in Hessen. Davon befinden sich drei in Nordhessen: die Jugendheime Homberg und Wabern sowie das Mädchenheim Fuldatal in Guxhagen. Inzwischen hat der LWV die Trägerschaft für jene Jugendhilfeeinrichtungen, die nicht geschlossen wurden, abgegeben.
Ziel der Wissenschaftler ist das Erkennen von Strukturen und Mechanismen, die zu den Missständen und Menschenrechtsverletzungen in der hessischen Heimerziehung geführt haben.
In einem ersten Schritt werden die Forscher 1400 Akten exemplarisch auswerten. Sie entwickeln Erhebungsbögen, mit denen sie die Unterlagen unter bestimmten Kriterien untersuchen.
Außerdem berichten Zeitzeugen über ihre Erlebnisse. Zu ihnen zählen nicht nur ehemalige Heimkinder, sondern auch LWV-Mitarbeiter sowie Kritiker der Heimerziehung. „Uns ist es dabei außerordentlich wichtig, den Blick von außen zu gewinnen“, sagte gestern die Erste Beigeordnete des LWV, Evelin Schönhut-Keil.
Wanderausstellung geplant
Geplant ist darüber hinaus eine Wanderausstellung zu dem Thema, die der Studienbereich Visuelle Kommunikation der Kasseler Kunsthochschule mit Prof. Gabriele Franziska Götz und Prof. Joel Baumann an der Spitze auf die Beine stellt. Die Kosten für das auf ein Jahr angelegte Projekt übernimmt der LWV mit 190 000 Euro.
Zur Geschichte: Die Heimkinder-Erziehung wandelt sich in den 1970er-Jahren schlagartig. Reformen begannen zu greifen, weil die außerparlamentarische Opposition sowie Wissenschaftler die Erziehungspraktiken in den Heimen stark kritisiert hatten. In der Folge wurde auch die Einrichtung in Guxhagen geschlossen.
Seit 2004 hat der LWV den Dialog mit den früheren Heimkindern aufgenommen. 2006 hatte sich die Verbandsversammlung als sein höchstes Gremium dafür entschuldigt, dass Heimkinder alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren.
Bundesweit ist für das Leiden der ehemaligen Heimkinder ein Entschädigungsfonds von 120 Millionen Euro geplant. Hessen will 2012 einen Beitrag von voraussichtlich fünf Mio. Euro leisten.
Von Beate Eder