Experte: "Hürde für Bürgerentscheide ist viel zu hoch"

Kassel. Der Kasseler Rechtsprofessor Hermann Heußner kritisiert die Rahmenbedingungen des Bürgerentscheids zum Erhalt der Stadtteilbibliotheken. Der Bürgerentscheid war wegen zu geringer Beteiligung gescheitert. Der 53-Jährige hatte am Sonntag gegen den Erhalt der Bibliotheken gestimmt.
Sie kritisieren die zu hohe Hürde für Bürgerentscheide in Hessen. Warum?
Prof. Hermann Heußner: Das Zustimmungsquorum von 25 Prozent ist viel zu hoch. Für einen fairen Maßstab kann man sich an dem orientieren, was im Stadtparlament gilt.
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Wenn man bedenkt, dass sich bei der Kommunalwahl 42,4 Prozent beteiligt haben, bedeutet das: Die Stadtverordnetenversammlung darf mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fassen, hinter denen rechnerisch nur 21,2 Prozent der Bürger stehen.
Außerdem ist das Parlament schon beschlussfähig, wenn nur 50 Prozent der Abgeordneten anwesend sind. Es kann also sogar Beschlüsse fassen, hinter denen nur elf Prozent der Wahlberechtigten stehen.
Sie sehen also eine Ungleichbehandlung bei Wahlen und Bürgerabstimmungen?
Heußner: Richtig. Bei einem Elf-Prozent-Quorum hätte die Initiative für den Erhalt der Stadtteilbibliotheken ja gewonnen. In Bayern beispielsweise wird direkte Demokratie schon viel stärker praktiziert als bei uns. Da liegt das Quorum bei Städten mit über 100 000 Einwohnern bei zehn Prozent.
Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl war dennoch deutlich höher als beim Bürgerentscheid mit 16,5 Prozent.
Heußner: Das ist ja auch logisch, dass sich mehr beteiligen, wenn es bei einer Kommunal- oder Landtagswahl darum geht, dem Parlament für fünf Jahre einen Blankoscheck auszustellen. Eine Einzelentscheidung mobilisiert natürlich nicht genauso stark – zumal die Schließung der Stadtteilbibliotheken nicht das Non-plus-ultra-Thema ist, das auch jenseits der betroffenen Stadtteile und in der Unterschicht ziehen würde. Insofern fand ich die 16,5 Prozent Beteiligung gar nicht so schlecht.
Angenommen, das Quorum wäre niedriger gewesen: Hätte das etwas am Wahlverhalten geändert?
Heußner: Dann wäre die Abstimmungsbeteiligung vermutlich höher gewesen. Denn dann können sich die Gegner des Bürgerentscheids nicht mehr auf dem hohen Quorum ausruhen. Im aktuellen Fall war es ja von vornherein relativ klar, dass nicht 25 Prozent Jastimmen zustande kommen. SPD und Grüne, die für die Schließung sind, konnten sich also sagen: Wir machen pro forma etwas, aber müssen nicht in die Vollen gehen.
Gibt es weitere Gründe, die zum Scheitern des Bürgerentscheids beigetragen haben?
Heußner: Die offizielle Information der Stadt Kassel, die der Wahlbenachrichtigung beilag, war viel zu kurz und kompliziert. Bürger aus der Unterschicht können damit nichts anfangen. Die Informationen müssen viel anschaulicher und verständlicher sein. Außerdem müssen Wahlempfehlungen der Parteien darin aufgeführt werden - daran wollen sich viele orientieren.
Lag die geringe Beteiligung in sozial schwachen Stadtteilen nur daran?
Heußner: Es lag am Thema und der mangelnden Information. Das Phänomen, dass sich bildungsferne Schichten wesentlich weniger an Wahlen beteiligen, ist aber nicht neu. Eine Demokratie kann auf Dauer allerdings nur existieren, wenn die Leute mitmachen. Deshalb halte ich eine Wahlpflicht für sinnvoll. Wir akzeptieren ja auch, dass wir in die Schule gehen und Steuern zahlen müssen.
Steht nicht eine Wahlpflicht im Widerspruch zur These, dass mehr Bürgerbeteiligung nötig ist?
Heußner: Wenn die Bürger sich umfassend beteiligen können, geht vielleicht die Beteiligung an den Parlamentswahlen zurück, weil sie wissen: Wenn uns etwas nicht passt, können wir eingreifen. Insgesamt - wenn man Abstimmungen und Wahlen zusammen betrachtet - nimmt die Aktivität aber zu. Das zeigt die Schweiz. Die Leute wollen sich beteiligen, aber man muss ihnen auf die Sprünge helfen.
Von Katja Rudolph
Zur Person
Hermann Heußner (53) ist Professor für Öffentliches Recht und Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule Osnabrück. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist direkte Demokratie. Der Kasseler ist verheiratet und hat drei Kinder. Er lebt mit seiner Familie im Vorderen Westen. (rud)