Kasseler haben Nase vorn: Neue Bombardier-Loks setzen weltweit Standard

Kassel. In den weitläufigen Bombardier-Hallen im Werk Mittelfeld herrscht Aufbruchsstimmung. Nach einigen recht mageren Jahren in Folge sind die Beschäftigten derzeit dabei, die größte Lokfabrik Europas Schritt für Schritt vom Standby-Betrieb auf Auslastung hochzufahren.
Da werden Arbeitsplätze neu eingerichtet, Montagelinien umgebaut, Materialvorräte aufgefüllt und die Zeitarbeitskollegen eingearbeitet. „Bald steht hier alles voll“, sagt Werksleiter Stellen Riepe und zeigt auf die vielen leeren Montageplätze in den Hallen.
Nach den Boomjahren bis 2009, als die Kasseler Lokbauer in der Spitze bis zu 30 Loks im Monat montierten, dem massiven Auftragseinbruch und der langen Durststrecke
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danach mit dem Abbau von 150 festen Stellen kommt nun wieder Leben in die Bude. Wurden im vergangenen Jahr gerade einmal knapp 50 Loks montiert, sollen es 2014 und 2015 jeweils rund 100 mit Luft nach oben werden.
Das entspricht einer durchschnittlich guten Jahresproduktion. Neben einer Vielzahl privater und staatlicher Kunden im In- und Ausland ist es vor allem die Deutsche Bahn, die regelmäßig in Kassel ordert. Allein 450 Elektroloks der neuen AC-3-Generation sollen in den nächsten Jahren aus den Kasseler Hallen rollen – einer der größten Bahntechnik-Aufträge der Nachkriegszeit in Europa. Mit den 84 Tonnen schweren und 7600 PS starken Zugmaschinen setzen die Kasseler Lokprofis wie schon so oft technologisch neue Standards.
Der völlig neue Lokkasten kann mit wenigen Handgriffen mit Planen verkleidet werden. Das ist vor allem für Leasingfirmen interessant, die Loks bei einem
Kundenwechsel nicht neu lackieren lassen müssen. Die Front ist aus glasfaserverstärktem Kunststoff und kann ohne Veränderung der Sicherheitsarchitektur vergleichsweise preiswert individuell auf den Kunden abgestimmt werden. Die wichtigste Neuerung aber ist das sogenannte Last-Mile-Package.
Damit kann der Koloss mithilfe einer Batterie und eines kleinen Dieselaggregats, das Strom für den Elektro-Antrieb erzeugt, auf den letzten Kilometern auf nicht elektrifizierten Abschnitten mit gedrosselter Geschwindigkeit, aber voller Anfahrzugkraft die Ware bis ans Endziel bringen. Das ist vor allem dann wichtig, wenn etwa Chemiezüge von den öffentlichen Strecken ins Betriebsgelände einfahren. In diesen Fällen muss die Zugmaschine einer Rangierlok weichen, was Zeit und Geld kostet.
Solch ein Produkt hat der Wettbewerb laut Riepe nicht. Das trifft im Übrigen auch auf die dieselelektrische Multi-Engine-Lok zu. Sie hat statt eines großen vier kleine Dieselmotoren, die den Strom zur Versorgung der Elektro-Antriebe an den Achsen produzieren. Je nach Tempo, Beanspruchung und Zuglast kommen ein bis vier Motoren zum Einsatz – vollautomatisch.
Die intelligente Elektronik weiß, wie viel Kraft gerade benötigt wird. Das spart Energie, verringert den Schadstoffausstoß und Lärm. „Mit unseren neuen Produkten sind wir wieder einmal die Vorreiter“, sagt Riepe.
Von José Pinto
Erste deutsche Lok und ICE I
1848 wurde die erste Lokomotive aus deutscher Tradition, der „Drache“, bei Henschel in Kassel gebaut. Damit haben die Nordhessen die längste Lokbautradition Deutschlands
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und eine der längsten in Europa. Bislang sind genau 35 014 Zugmaschinen aus den Kasseler Lokhallen gerollt. Das heutige Werk ist das größte seiner Art in Europa und zugleich weltweites Kompetenzzentrum im global tätigen kanadisch-deutschen Technologiekonzern Bombardier.
Der Bahntechnik- und Flugzeughersteller beschäftigt weltweit 76 400 Mitarbeiter, setzte 2013 rund 13,3 Milliarden Euro um, verdiente unterm Strich 444 Millionen Euro und sitzt auf einem Auftragspolster von fast 51 Mrd. Euro – das entspricht Arbeit für fast vier Jahre. Nach Umsatz und Beschäftigten sind die Luftfahrt- und die Bahntechniksparte nahezu gleichauf. Der Bahnbereich setzt mit 38 500 Beschäftigten in 36 Ländern 6,4 Mrd. Euro um.
In Deutschland arbeiten 8000 Menschen für Bombardier, davon 750 in Kassel. Das Werk in Nordhessen gehört seit 2001 zu Bombardier. Es ist zwar auf klassische Loks spezialisiert, kann aber auch Hochgeschwindigkeit. Unter anderem bauten die Kasseler die ICE-I-Triebköpfe, die auch weltweit zu den zuverlässigsten gehören und seit fast 30 Jahren im Einsatz sind, sowie den spanischen Superschnellzug AVE 102. (jop)