Masern: Kinderarzt über die schlechte Impfquote in Kassel
Kassel. In Deutschland breiten sich die Masern wieder aus. Über 1600 Fälle wurden bereits in diesem Jahr gezählt, zehnmal mehr als noch im Jahr 2012. Gleichzeitig ist es um die Impfquote in Kassel nicht gut bestellt. Laut Schulärztlichem Dienst vor allem im Westen der Stadt.
Dr. Martin GlückHerr Dr. Glück, Kassels Impfquote in Sachen Masern sieht nicht gut aus. Das sagt zumindest der Schulärztliche Dienst. Was ist da los?

Dr. Martin Glück: In Kassel gibt es leider noch viele Impfverweigerer. Das ist ein Skandal – und aus drei Gründen verantwortungslos: Erstens gefährden diese Leute ihr eigenes Kind, weil sie ihm einen wesentlichen Schutz vorenthalten. Zweitens gefährden sie Kinder anderer Leute. Und drittens vereiteln sie die Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation, das Masernvirus global auszurotten. Jedes weitere Jahr Verzögerung bis zu diesem Ziel kostet Zigtausend Kindern das Leben.
Ist das Problem tatsächlich so gravierend? Immerhin gibt es 2013 in Deutschland gerade einmal 1600 Infektionen. Bei über 80 Millionen Einwohnern ist das nicht gerade viel.
Glück: Pro Jahr sterben in Deutschland immer noch zwei bis drei Kinder an Masern. Diese Krankheit stellt ein hohes Risiko dar. Eine von 1000 Erkrankungen endet tödlich, in bis zu 30 Prozent aller Fälle treten schwere Komplikationen wie eine Lungenentzündung auf. Jeder tausendste Fall führt zu einer Gehirnentzündung. Davon enden 20 tödlich, 40 mit dauerhaft bleibenden Schäden.
Kennen Sie solche Fälle?
Glück: Ja. Erst im Juni ist ein 14-Jähriger an Spätfolgen gestorben, einer schleichend verlaufenen Gehirnentzündung. Er war als Säugling im Wartezimmer eines Arztes angesteckt worden von einem älteren Kind, das Masern hatte. Dessen Mutter war Impfverweigerin.
Wie sieht es mit den Impfrisiken aus?
Glück: Die Impfung mit abgeschwächten lebenden Masernviren zählt zu den effektivsten, sichersten und am besten erforschten Impfungen. Die Angst vor Impfrisiken resultiert noch aus der Zeit der Pocken- und Tuberkulosebekämpfung. Hinzu kommt, dass in Deutschland traditionell eine irrationale Wissenschaftsfeindlichkeit existiert.
Ist das auch der Grund, warum im Kasseler Westen die Impfquote so niedrig ist?
Glück: Das liegt an der Auffassung bestimmter Familien aus dem gutbürgerlichen Milieu. Vor allem ist es die Waldorf-Ideologie, die die Statistik runterreißt. Es gibt Leute, die glauben, dass Kinder durch Infektionskrankheiten wie den Masern einen Gestaltwandel erfahren und gestärkt daraus hervorgehen. Das ist medizinisch Unsinn und schlicht zynisch angesichts der vorhandenen Risiken.
Und warum ist die Quote im Osten Kassels so hoch?
Glück: Das ist ja der Witz: Die Impfquote liegt ausgerechnet in jenen Wohngebieten bei 100 Prozent, wo man nicht so viel Elternverantwortung erwarten würde. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. In Wilhelmshöhe liegt die Quote bei nur 79 Prozent. Sogar Länder wie Ecuador und Honduras stehen besser da.
Was sollte geschehen, um das Problem in den Griff zu bekommen?
Glück: Das Infektionsschutzgesetz muss konsequent angewendet werden. So sollte ungeimpften Kindern der Zugang zu Kita und Kindergarten generell verwehrt werden. Auch sollte eine Impfpflicht eingeführt werden. Der Berufsverband der Kinderärzte fordert das inzwischen. Die Krankenkassen müssen Impfverweigerer mit hohen Aufschlägen in die Pflicht nehmen. Und auch der Staat sollte mit Kürzungen oder Streichung des Kindergeldes reagieren. Immerhin geht es hier um eine Verletzung der Fürsorgepflicht. Da sollte dann auch der Staat eingreifen.
Zur Person: Dr. Martin Glück
Dr. Martin Glück (52) ist ein in Fritzlar niedergelassener Kinder- und Jugendarzt. Geboren wurde er in Blaubeuren. Er studierte in Marburg Medizin und machte seine Facharztausbildung am Kinderkrankenhaus Park Schönfeld bei Dr. Heiming und an der Kinderklinik des Kasseler Klinikums bei Prof. Wehinger. Glück ist verheiratet, hat fünf Kinder und lebt mit seiner Familie in Bad Wilhelmshöhe. Seine älteste Tochter ist 24 Jahre alt und studiert Medizin. Er ist Hobbymusiker und spielt elektrische Gitarre in der Blues-Rockband „Twelve Bar Slater“. (bon/hei)