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Sterbehilfe oder nur Beihilfe zum Freitod? Suizid ist Grenzfall für Polizisten

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Von: Ulrike Pflüger-Scherb

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Kassel.  Der Erste Kriminalhauptkommissar Helmut Wetzel und seine Kollegen werden bei jedem nicht natürlichen Todesfall verständigt. Dazu gehören auch Selbsttötungen.

In Stadt und Kreis Kassel begehen 60 bis 70 Menschen pro Jahr Suizid. „Das ist oft eine schwierige Situation für die Kollegen“, sagt Wetzel. Er ist Leiter des Kommissariats 11 bei der Kasseler Kripo.  „Die Hinterbliebenen haben oft ganz viele Fragen.“ Und bei all diesem Kummer müssten die Beamten dann auch noch ermitteln, ob es wirklich ein Suizid, ein Verbrechen oder zum Beispiel Tötung auf Verlangen war.

Mit Sterbehilfe habe die Kasseler Polizei bislang nicht viel zu tun gehabt, sagt Wetzel. Aber ein Fall aus dem vergangenen Jahr hat den Ermittler dazu bewogen, sich mit dem Thema Sterbehilfe und den Folgen für die Polizei näher auseinanderzusetzen: Ein 90-jähriger Mann aus Kassel wollte seinem Leben ein Ende setzen, und deshalb wurde die Polizei eingeschaltet.

Gemeinsam mit Polizeipfarrer Kurt Grützner entwickelte Wetzel die Idee, die jährliche Polizeitagung der evangelischen Akademie in Hofgeismar zu diesem Thema anzubieten. „Hilfe beim Sterben, ein Dilemma polizeilicher Todesermittlungen“ lautet der Titel der Tagung, die vom 11. bis 13. Mai am Tagungsort in Bad Zwesten stattfindet. Die Tagung richte sich nicht nur an Kriminal- und Schutzpolizisten, sondern an alle, die sich mit diesem sensiblen Thema auseinandersetzen möchten. An ihm werde deutlich, was es für Polizisten bedeute, manche Gesetze in der Praxis umzusetzen, sagt Grützner.

Helmut Wetzel
Helmut Wetzel © Pflüger-Scherb

„Polizisten haben gerne ganz klare Regeln für ihre Arbeit, auch für jeden Grenzfall“, weiß Wetzel. Das Thema Suizid und Sterbehilfe werde aber schnell zum Grenzfall, der Polizisten in ein Dilemma bringen kann, wie der Fall aus dem Vorjahr zeige (siehe Artikel unten). Während aktive Sterbehilfe in Deutschland verboten ist, bleibt Beihilfe zum Suizid straffrei. Oft sind die Übergänge aber fließend.

„Woher soll ein Beamter denn wissen, ob ein Mensch geistig gesund ist und es seine freie Entscheidung ist, seinem Leben ein Ende zu setzen?“, fragt Wetzel. „Woher soll ein Polizist wissen, ob ein alter Mensch nicht von seinen Angehörigen zu einem Suizid gedrängt worden ist?“, wirft Grützner in den Raum. Schnell könne sich auch ein Polizist der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen, wenn er einen angekündigten Suizid nicht verhindert.

Die Tagung werde Polizeibeamten auch keine endgültige Handhabe liefern, wie sie in einem konkreten Fall von Sterbehilfe reagieren müssen, sagen Grützner und Wetzel. Das Thema soll allerdings von den verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden, aus medizinischer, juristischer, polizeilicher und ethischer Sicht. Zu den Referenten gehören unter anderem der frühere Justizminister Dr. Christean Wagner und Bischof Prof. Martin Hein.

Ein Fall von angekündigtem Selbstmord:

Vor welche Herausforderungen die Polizei bei einem angekündigten Suizid steht, macht der Erste Kriminalhauptkommissar Helmut Wetzel an einem Beispiel aus dem Vorjahr in Vellmar deutlich:

Ein 90-jähriger Mann, der lebensmüde, aber klar bei Verstand war, hatte über seinen Sohn Kontakt mit einem Sterbehelfer aus Berlin aufgenommen. Das erzählte der Senior auch in dem Pflegeheim, in dem er in Vellmar untergebracht war. Diese Information verbreitete sich schnell. Als der Sohn und der Sterbehelfer in dem Heim ankamen, wurde der alte Mann von der Leitung aufgefordert, sofort die Einrichtung zu verlassen, weil das Heim ansonsten in Schwierigkeiten geraten könne.

Mit dem Rollstuhl brachte der Sohn seinen Vater in seine Wohnung. Der Arzt kam mit, um dort das geplante Gespräch zu führen. Als sie in der Wohnung eintrafen, wartete dort bereits die Polizei, die von der Heimleitung informiert worden war. Es habe der Verdacht bestanden, dass eine Tötung auf Verlangen bevorsteht. Der Arzt wurde vorläufig festgenommen, im Kasseler Präsidium befragt und wieder auf freien Fuß gesetzt. Unterdessen wurde der 90-Jährige in die Psychiatrie nach Merxhausen gebracht. Dort stellte ein Arzt fest, dass der Senior keinesfalls verwirrt ist, sondern bei klarem Verstand.

Nach drei Tagen wurde er wieder entlassen und von seinem Sohn aufgenommen, der von dem Arzt die für den Suizid nötigen Medikamente und eine Anleitung bekommen hatte. Der Sohn mischte 80 gemahlene Pillen mit Apfelmus – eine Überdosis eines Medikaments, das den Herzschlag verlangsamt. Der Sohn stellte dem Vater den Brei und ein Schlafmittel auf den Tisch. Als der Vater nach einigen Minuten einschlief, verließ der Sohn mit einem Bekannten die Wohnung. Dies hatte ihm der Arzt geraten. Falls er anwesend sei, wenn sein Vater stirbt, könne er wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden. Als der Sohn in die Wohnung zurückkam, war der Vater tot.

Die Staatsanwaltschaft Kassel nahm gegen den Sohn Ermittlungen wegen des Verdachts der Tötung auf Verlangen auf. Das Verfahren wurde später allerdings eingestellt. Man kam zum Schluss, dass es sich um Beihilfe zum Suizid handelt. Und das ist straffrei. Den Original-Artikel zu dem Fall aus dem vergangenen Jahr finden Sie hier.

Anmeldung: Bei der ev. Akademie, Gesundbrunnen 11, 34 369 Hofgeismar, Telefon 05671/88 11 18, oder im Internet unter www.akademie-hofgeismar.de

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