Zweifelhafte Alm-Wunder

Göttingen. „Das wirkt nachhaltiger als jede Tablette.“ Der Göttinger Neurobiologe Professor Gerald Hüther schien ein Patentrezept für die Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit- und /Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) gefunden zu haben.
Kinder mit ADHS verbringen Wochen auf einer Alm, wo sie fernab von Schule, Fernsehen und Computer neue Erfahrungen sammeln.
Die Outdoor-Erlebnisse sollen so stark wirken, dass das Kind kein Ritalin mehr braucht. Jetzt ist das medienwirksame „Alm-Projekt“ in die Negativ-Schlagzeilen geraten: Bei einem der Aufenthalte soll ein Betreuer einen Jungen missbraucht haben. Aber es gab auch schon lange inhaltliche Kritik an dem Projekt – auch Hüther ist umstritten.
Der 62-jährige Neurobiologe, der seit 1992 als außerplanmäßiger Professor an der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Göttingen tätig ist, hat sich vor allem als Sachbuchautor und Referent einen Namen gemacht. Manche Medien bezeichnen ihn als bekanntesten Hirnforscher Deutschlands.
In der wissenschaftlichen Community genießt er aber keinen besonders guten Ruf. Hüther hatte vor Jahren nach Experimenten an fünf Ratten behauptet, dass die Langzeitgabe des ADHS-Medikaments Ritalin das Risiko für eine Parkinson-Erkrankung stark erhöhen würde. Fachkollegen kritisierten auch, dass die Zahl von fünf Versuchstieren zu gering sei, um valide Ergebnisse erzielen zu können. Der Arbeitskreis Neurobiologie der Uni Göttingen distanzierte sich von Hüthers Aussagen.
Seine wissenschaftliche Karriere geriet aufs Abstellgleis. Experimentelle Forschung betreibt er seit Jahren nicht mehr. Nach Auskunft der UMG bearbeitet er „Fragestellungen aus dem Bereich der anwendungsbezogenen Neurowissenschaften“. Für Hüther ist jedes Kind „hoch begabt“ – so auch der Titel eines seiner Bücher – , man müsse es nur in die Lage versetzen, seine Begabungen ausleben zu können. Hier liegt auch der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie der ADHS-Störung bei Kindern, so Hüther. Er setzt bei der ADHS-Behandlung nur auf erzieherische und psychologische Maßnahmen. Das von ihm konzipierte Alm-Projekt sollte hierfür den Beweis liefern. Hüther prognostizierte, dass der Aufenthalt in der Natur bei den Kindern zu einer „massiven Nachreifung des Frontalhirns“ führen werde und die Kinder dann kein Ritalin mehr benötigten. Inzwischen muss er einräumen, dass Kinder auch danach mit Ritalin behandelt wurden. Genaue Angaben gibt es nicht, eine wissenschaftliche Projekt-Evaluation hat nie stattgefunden.
Bei Vorträgen im Dezember 2010 in Göttingen, bei der Hüther über die Erfolge des Projekts berichtete, gab er auf Fragen ausweichende Antworten. Der nun unter Missbrauchsverdacht in Haft sitzende Betreuer, der auch als Redner auftrat, schwärmte damals von den „Wundern“, die auf der Alm passiert seien – „ganz viele kleine Wunder.“
Von Heidi Niemann