Ein Atomkraftwerk zum Aufessen – für einen Euro

Göttingen. Das Atomkraftwerk Grohnde scheint weit, mit dem Auto sind es etwa eine Stunde bis zum Atommeiler vor den Toren Hamelns. Käme es zum GAU, aber wäre die Katastrophe und die Strahlung ganz nah: Göttingen müsste evakuiert werden.
Ein Szenario, um das die wenigsten Menschen in der Region wissen, mit dem sie aber am Samstag um 12.05 Uhr in Göttingen konfrontiert wurden: Sirenen und Lautsprecherdurchsagen informierten über einen simulierten Störfall und seine Folgen. Etwa 400 Menschen bildeten eine Menschenkette in der Innenstadt, eben so viele an der Bürgerstraße, um gegen Kernkraftwerke allgemein zu demonstrieren.
An den Einfallstraßen und Kreuzungen zur Innenstadt, wie Weender und Groner Tor, waren gelb-schwarze Trassierbänder gespannt und machten drastisch klar: „Super-GAU-Sperrgebiet“. Mitglieder der Anti-Atom-Initiative Göttingen informierten über den Unfall in Grohnde und was wäre, wenn der wirklich einträte. „Sie müssten ihre Häuser verlassen – für immer.“
Viele Passanten störten sich wenig daran. „Ich muss einkaufen“, sagte ein Mann im Vorbeigehen. Ein anderer: „Grohnde abschalten – da wird der Strom doch noch teurer.“ Fukushima ist für viele weit weg und scheinbar verdammt lang her. Dort ist wirklich Sperrgebiet, gibt es verwaiste Dörfer und Städte.
Kurz nach dem Alarm um 12.05 Uhr bildet sich in der Weender Straße vom Weender Tor bis zum Kornmarkt eine – wenn auch stellenweise löchrige – mehrere hundert Meter lange Menschenkette. Was auffällt: Viele Kinder sind dabei, bekunden ihr schlechtes Gefühl gegenüber Atomkraftwerken.
„Sie geht es an, sie sind doch die Zukunft“, sagt Ursula Braun, die ihre Enkel Joana (8) und Felicia (10) aus Dassel dabei hat. Plötzlich heult die Sirene los: Atomalarm! Ursula Braun stürmt auf eine Frau zu, die Jodtabletten verteilt, erkämpft sich schreiend einige Tabletten für die Kinder. Passanten gehen kopfschüttelnd, vorbei. Andere schauen betroffen dem Schauspiel zu.
Gleich daneben kann ein AKW gegen eine Spende und noch dazu ganz ungefährlich vernichtet werden: Aylin (9) und Bianca (17) von der Organisation „Rebell“ verkaufen aus Schokoküssen (Reaktorgebäude), Waffeln (Kühlturm) und Butterkeksen (Gelände) gebastelte Atommeiler. Ein Euro kostet der ernst gemeinte Spaß, das AKW zu zerstören. Einige Demonstranten sind weit gereist, um in Göttingen gegen die Atomkraftwerke zu protestieren. So wie Jan Berkelder, der aus der Nähe von Arnheim (Niederlande) stammt und in Bodenfelde an der Weser Urlaub macht. „Ich bin alter Anti-AKW-Kämpfer und dachte: Da muss ich dabei sein.“ Auf seinem gelben Rad fuhr nach Göttingen und stand Jan gut gelaunt vor dem Gänseliesel.
Von Thomas Kopietz
Fotos von der Demonstration
Polizeidirektion und ihre Aktion auf Facebook
Das war neu: Zum ersten Mal bot die Polizeidirektion Göttingen einen besonderen Service über das soziale Netzwerk Facebook zu den Aktionen gegen das Atomkraftwerk Grohnde am Samstag in Südniedersachsen an. Fast „live“, nur mit geringer Zeitverzögerung, gab die Redaktion um Pressesprecherin Hilke Vollmer die Informationen weiter, die sie von den Polizeibeamten vor Ort bekommen hatte.
Vorab wurde gepostet, „dass ihr Euch von 9 bis 16 Uhr auf kleiner Verkehrsbehinderungen einstellen müsst“. Um neun waren dann die Polizei-Facebooker online und gespannt, wie das Projekt und die vielen Veranstaltungen rund um Grohnde bis Hannover, Detmold und Göttingen laufen würden. Das erste Foto über ein Plakat, das von einer Sperrzone kündet, geht um 10 Uhr raus und findet gleich Leute, denen das gefällt. Es folgen Meldungen über einen Auto-Corso in Hameln, Bodenwerder und in Bad Pyrmont. Die Meldung wird stetig aktualisiert. Göttingen wird erstmals um 9.45 Uhr erwähnt: Am Hiroshimaplatz ist der Info-Stand aufgebaut. 10.30 Uhr: Foto von einer Dekontaminationsstelle bei Sülbeck. Die Anlage wird eine halbe Stunde später „in Betrieb genommen“, Aktivisten mit Gasmasken spritzen Autos ab – eindrucksvoll! Zeitgleich: Göttingen: Im Bereich Holtenser Landstraße / Lindenweg soll eine Straßensperrung stattfinden. Eine Menschenkette mit Flatterband findet sich dort zusammen. Die Menschenkette will in der Zeit von 12.05 - 12.45 Uhr in Richtung Innenstadt ziehen. 11.30 Uhr: In Bovenden am Rathausplatz haben sich 25 Erwachsene und 10 Kinder versammelt. In Lenglern, Mittelstraße, wird eine Tablettenausgabestation aufgebaut. In diesem Bereich soll der Verkehr durch Schilder auf 20 km/h herunter gedrosselt werden. In Bad Karlshafen verteilen die 50 bis 60 Teilnehmer Flugblätter und Jodtabletten an Fußgänger, Pkw werden nur kurz angehalten. In Gladebeck haben sich für die Menschenkette 50 Personen zusammengefunden. 13.30 Uhr: Menschenkette in Göttingen vom Hiroshimaplatz bis zum Groner Tor.
Von den Abschlusskundgebungen meldet die Polizei via Facebook: Hildesheim 120 Teilnehmer, Hannover 60, Stadthagen 150, Göttingen 300 Teilnehmern. Das Beste: Es gab keine Meldungen über Gewalttätigkeiten. Fazit: Ein guter Start der neuen Info-Kampagne der Polizei über Facebook. (tko)