Jeden Tag eine Demütigung

Steinatal. Ohne die Gedanken an ihr Kind würde Ellen Thiemann heute nicht mehr leben: Dessen ist sich die 77-jährige Journalistin und Autorin sicher. Die gebürtige Dresdnerin saß in der DDR im Gefängnis. Ihr Verbrechen war, dass sie in den Westen wollte. Damit ihr Sohn nicht ins Heim musste, nahm die damals 34-Jährige das Martyrium im Frauenzuchthaus Hoheneck auf sich. Darüber sprach Ellen Thiemann am Dienstag mit Zwölftklässlern in der Melanchthon-Schule Steinatal.
„Einmal im Vierteljahr durfte ich eine halbe Stunde Besuch bekommen“, erzählte Thiemann. „Das war die einzige Möglichkeit, um etwas über mein Kind zu erfahren.“ Als Staatsverbrecherin wurden die Frauen in Hoheneck systematisch drangsaliert und gedemütigt, in Wasser- und Dunkelzellen sowie im Kellerarrest seelisch und körperlich gepeinigt, mit Psychopharmaka ruhig gestellt.
„Sehr demütigend waren die Zellen- und Körperrazzien“, sagte die Journalistin. Um Kassibern – auf Zettelchen verfasste geheime Nachrichten unter Gefangenen – auf die Spur zu kommen, mussten die Frauen vor dem Gefängnispersonal, „den Wachteln“, nackt fünf Kniebeugen machen. „Beschämend, das vergisst man nie.“ In den Zellen hätten verheerende Zustände geherrscht. Schränke gab es nicht, so dass alles auf dem Boden gelegen habe, erläuterte Thiemann.
„Mein Mann gehörte zu den größten Stasi-Spitzeln im Sportbereich.“
Ellen Thiemann
„Wenn die Raucher ihren Koller kriegten, weil sie keine Zigaretten mehr hatten, erleichterten sie die dünnen Grasmatratzen, auf denen wir schliefen und wickelten das Gras in ein Stück SED-Zeitung, um es zu rauchen.“ Nach der Entlassung folgte der nächste Schock: Klaus Thiemann hatte eine Geliebte, teilte Ellen mit, er habe „Karriere gemacht“. „Mein Mann gehörte zu den größten Stasi-Spitzeln im Sportbereich. Aber das habe ich tatsächlich erst 1999 gewusst, als der Spiegel das alles aufdeckte“, erzählte die Autorin.
Verarbeitet hat Thiemann das in ihrem Buch „Der Feind an meiner Seite“. Bis heute wird die 77-Jährige bedroht und „von alten Seilschaften attackiert“. Weil sie weiter recherchiert, weiter schreibt, weiter redet: „Dieses Kapitel der DDR-Geschichte darf nicht geschlossen werden, ehe das brutale System aufgedeckt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden“, sagte sie.
Radioaktivität im Körper
Beweise für Anschläge habe sie nicht, wohl aber Hinweise. „1986 wurde in meinem Körper eine hohe Radioaktivität fest gestellt. Die Stasi hat mit Giften gearbeitet, um Widersacher auszuschalten.“ Immer wieder sei sie überfallen worden, es gab Wohnungseinbrüche, Karten mit Warnungen: „Meine Wohnungstür mache ich schon seit 40 Jahren nicht auf.“ Aber sie sei sich bewusst: „Ich bin nicht allein. Ich bin eine von vielen. Und ich will den jungen Leuten klar machen, dass es zwei deutsche Diktaturen gab.“
Von Sandra Rose