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„In ihrem Leid alleingelassen“

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Im Film Anonyma stellt Nina Hoss eine vergewaltigte Frau dar. © dpa

Schätzungen zufolge sind am Ende des Zweiten Weltkrieges zwei Millionen Frauen, Mädchen und Kinder von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt worden. In der Öffentlichkeit waren diese Verbrechen lange Zeit ein Tabuthema.

Jetzt zeigt das ZDF dazu den Film „Anonyma“. Zugleich ist von Ingo von Münch das Buch „Frau, komm!“ erschienen. Wir sprachen mit dem Völkerrechtler.

Was hat Sie bewogen, dieses Thema zu recherchieren und dieses Buch zu schreiben?

Ingo von Münch: Die Anregung, jene Geschehnisse nachzuzeichnen, erhielt ich durch Erzählungen einer ehemaligen Schulkameradin, die in der Mark Brandenburg den Einmarsch der sowjetischen Soldaten erlebt hat. Je länger ich an dem Buch gearbeitet habe, umso häufiger wurde mir bewusst, dass es in unzähligen Familien Opfer solcher Gewalt gegeben hat.

Das Thema Ihres Buches ist nicht neu. Was ist das Neue an Ihrem Buch? Von Münch: Es gibt in der Tat etliche Schilderungen und Erlebnisberichte über Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit, in denen – neben vielen anderen schlimmen Ereignissen – auch das Thema Vergewaltigung vorkommt. Mein Buch „Frau, komm!“ befasst sich dagegen - ähnlich wie das 1993 erschienene Taschenbuch von Helke Sander und Barbara Johr „Befreier und Befreite“ - allein und umfassend mit diesem Thema.

Zur PersonIngo von Münch (77), in Berlin geboren, studierte Rechtswissenschaften und habilitierte sich 1963/1964 mit der Schrift „Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft“. FDP-Mitglied seit 1968, war von Münch von 1987 bis 1991 Wissenschaftssenator sowie zweiter Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, später auch Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.Warum ist das Buch nicht in einem deutschen Verlag erschienen?

Zur Person

Ingo von Münch (77), in Berlin geboren, studierte Rechtswissenschaften und habilitierte sich 1963/1964 mit der Schrift „Das völkerrechtliche Delikt in der modernen Entwicklung der Völkerrechtsgemeinschaft“. FDP-Mitglied seit 1968, war von Münch von 1987 bis 1991 Wissenschaftssenator sowie zweiter Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, später auch Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Von Münch: Ich habe das Manuskript rund zwanzig deutschen Verlagen angeboten – ohne Erfolg. Die meisten dieser Verlage haben eine Veröffentlichung abgelehnt, ohne überhaupt das Manuskript im Einzelnen gekannt zu haben. Die Massenvergewaltigung deutscher Frauen und Mädchen passt offenbar in der von mir gewählten Form nicht in ein deutsches Verlagsprogramm.

Das Buch thematisiert kaum den Charakter von Hitlers Vernichtungskrieg im Osten und die deutschen Verbrechen vor allem in der Sowjetunion. Macht es das Buch nicht angreifbar, wenn das Umfeld der Massenvergewaltigungen und ihre Vorgeschichte kaum berücksichtigt werden

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Von Münch: Hitlers Vernichtungskrieg im Osten und die von Deutschen vor allem in der Sowjetunion begangenen Verbrechen sind eine Tatsache, über die in zahlreichen Büchern und in zahllosen Abhandlungen ausführlich geschrieben worden ist. Mein Buch ist keine Geschichte des Zweiten Weltkriegs, sondern nur eine Darstellung der Leiden von Frauen und Mädchen, die an jenen Verbrechen Anderer nie beteiligt waren. Individuelles Leid Unschuldiger sollte nicht per „Kontext“ aufgerechnet oder relativiert werden.

Zum Thema selbst: Waren die beschriebenen Massenvergewaltigungen Ergebnis von Befehlen oder Ergebnis einer allgemeinen Verrohung der sowjetischen Soldaten?

Von Münch: Es gab keinen Befehl der sowjetischen Militärführung, deutsche Frauen und Mädchen zu vergewaltigen. Es gab aber eine intensive Hasspropaganda, Rachegefühle, kriegsbedingte Verrohung, Lust an sexueller Befriedigung und Demütigung, Siegesrausch und Alkoholexzesse.

Kann man angesichts der Massenvergewaltigungen von einem bewusst eingesetzten Mittel der Kriegsführung sprechen?

Von Münch: Die Vergewaltigungen waren das Werk einer insbesondere von Ilja Ehrenburg zur Rache aufgehetzten Soldateska. Überliefert ist die Frage eines Sowjetsoldaten an einen Kameraden: „Ich habe mich heute dreimal gerächt. Wie oft hast Du?“ Ein bewusst angeordnetes Mittel der Kriegsführung gegen Deutschland waren diese Vergewaltigungen aber wohl nicht. Anders die Situation im Bosnien-Krieg: Die planmäßige Vergewaltigung bosnischer muslimischer Frauen durch serbische Täter hatte das Ziel, im Wege der so genannten ethnischen Säuberung diese Volksgruppe zu zerstören.

Welche Erklärung haben Sie dafür, dass offenbar zehntausende oder sogar noch mehr sowjetische Soldaten diese Taten begangen haben? Hat es überhaupt kein Interesse, keine Bemühungen gegeben, diesen Rausch der Gewalt zu stoppen?

Von Münch: Die Orgie der Gewalt zu stoppen wäre Sache der sowjetischen Offiziere gewesen. Dies geschah aber nur in wenigen Fällen. In den meisten Fällen hatten die Offiziere entweder nicht den Willen oder nicht die Autorität, die Vergewaltigungen zu verhindern – häufig beteiligten sich die Offiziere sogar selber daran.

Wann haben die Vergewaltigungen aufgehört?

Von Münch: Die Ausschreitungen hätten eigentlich mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 aufhören müssen. Dies war jedoch nicht die Realität. Auch nach diesem Datum wurden weiterhin Frauen und Mädchen –wenn auch nicht so oft wie vorher – von sowjetischen Soldaten missbraucht.

Für diese Vergewaltigungsopfer war der 8. Mai also kein „Tag der Befreiung“. Wurden Täter später bestraft?

Für diese Vergewaltigungsopfer war der 8. Mai also kein „Tag der Befreiung“. Wurden Täter später bestraft?

Von Münch: Nein. Es sind nur ganz wenige Fälle bekannt, in denen ein Täter ausnahmsweise zur Rechenschaft gezogen wurde. Hat es für die vergewaltigten Frauen eigentlich irgendeine Möglichkeit gegeben, nach Kriegsende Anzeige gegen Täter zu erstatten oder Entschädigungszahlungen zu bekommen? Von Münch: Nein. Die vergewaltigten Frauen wurden mit ihrem Leid alleingelassen. Das Schicksal der Ausgebombten, der Vertriebenen, der deutschen Soldaten und ihre Gefangenschaft ist in den ersten Nachkriegsjahren ein großes Thema gewesen, bevor das Interesse nachließ.

Warum waren die Massenvergewaltigungen offenbar kein Thema in der Öffentlichkeit?

Von Münch: Das Thema Vergewaltigung berührt einen Intimbereich, über den zu sprechen eine gewisse Scheu besteht. Die Opfer schwiegen auch deshalb, weil kaum jemand – nicht einmal die eigene Familie – mit ihnen darüber sprechen wollte. Und man sollte nicht vergessen: In der DDR durften von sowjetischen Soldaten begangene Kriegsverbrechen ohnehin nicht erwähnt werden.

Welche Folgen hat das Schweigen dieses Themas gehabt? Für die Betroffenen und für unser Geschichtsbewusstsein?

Von Münch: Für viele der Opfer war das Nicht-darüber-Sprechen-Können eine Katastrophe – man kann sagen: eine zweite Vergewaltigung. Gabi Köpp, Autorin des Buches „Warum war ich nur ein Mädchen?“ wurde als Fünfzehnjährige mehrmals von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Als sie darüber mit ihrer Mutter sprechen wollte, lehnte die Mutter das Gespräch ab. Und: ein Student berichtete mir kürzlich, er habe während seiner gesamten Schulzeit im Unterricht nie etwas über die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen erfahren. Was ist das für ein Land, das so mit der Geschichte seiner Opfer umgeht?

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von dem Buch?

Von Münch: Ich habe dieses Buch geschrieben, um der Wahrheit willen und um das Leid der Opfer nicht dem Vergessen oder Verschweigen anheimfallen zu lassen. Ich erhoffe mir, dass das Thema endlich die öffentliche Beachtung findet, die es verdient: im Idealfall auch in Russland. Wenn nach Lektüre des Buches nur eine einzige damals vergewaltigte Frau sich bewusst würde, dass sie sich deswegen in keinster Weise zu schämen braucht, wäre ich glücklich.

Auszug aus dem Buch

Auszug aus dem Brief einer Leserin aus Mecklenburg-Vorpommern an den Autor: „Das von Ihnen aufgegriffene Thema ist ein Tabu in Deutschland. Als ich Kind war, hörte ich nur Wortfetzen hinter vorgehaltener Hand, furchtbare Dinge, die ich nicht verstand. Im Dorf meiner Oma gab es ein Mädchen, etwas älter als ich. Wenn sie auftauchte, sprachen die Frauen abfällig vom „Russenkind“. Ich sehe dieses Mädchen noch vor mir. Sie hatte auffällig starke, dunkle, in der Mitte der Stirn zusammengewachsene Augenbrauen. Sie war ein südländischer Typ, passte gar nicht zur Dorfbevölkerung. Dennoch war das ein unglaublich fröhliches Mädchen. Das konnte ich damals nicht verstehen, denn wer so abfällig bezeichnet wurde, musste doch eigentlich niedergedrückt sein, aber wahrscheinlich hatte das Mädchen mit der Mutter Glück. Sie machte das Kind nicht für ihr Leid verantwortlich … Was mich in Aufzeichnungen von Bekannten besonders berührt hat, war die Darstellung, dass die Kinder „Vergewaltigen“ gespielt haben, so wie sie das mit ansehen mussten, ohne zu wissen, was da überhaupt geschah.“

Fotos: Anonyma: Ein Film über Massenvergewaltigungen

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