Die Sozial-Liberale: Ein Nachruf auf Hildegard Hamm-Brücher

Es gibt Momente, da hält der parlamentarische Betrieb den Atem an. Der 1. Oktober 1982, Tag des konstruktiven Misstrauensvotums im Deutschen Bundestag, ging als solcher in die Geschichte ein.
Die Debatte war so gut wie vorüber, als sich Hildegard Hamm-Brücher für eine persönliche Erklärung meldete. „Ich finde, dass beide dies nicht verdient haben“, sagte sie am Rednerpult. „Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Sie, Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen“. Die anschließende Debatte hatte tumulthafte Züge.
„Ich wollte und musste mit mir im Reinen bleiben“ – der Schlüsselsatz aus Hildegard Hamm-Brüchers Biografie zog sich wie ein Leitfaden durch das Leben der Politikerin, die bis zum Schluss eine Grande Dame des Liberalismus geblieben ist. Theodor Heuss, den sie 1946 kennenlernte, hatte sie für die FDP geworben: „Mädele, Sie müsset in die Politik“. Später nannte sie ihren politischen Ziehvater, den ersten Bundespräsidenten, „Abraham Lincoln unserer Demokratie“.
54 Jahre lang gehörte Hamm-Brücher der FDP an, deren Politik sie über Jahrzehnte prägte, als Bundestagsabgeordnete und Staatsministerin im Auswärtigen Amt unter Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Jahre später sagt sie: „Die sozialliberale Koalition war das einzige Mal, dass ich politisch da verortet war, wo meine Grundüberzeugungen liegen“. 2002 gab sie ihr Parteibuch zurück. Als Grund nannte sie die antisemitischen Äußerungen des damaligen FDP-Vize-Chefs Jürgen Möllemann.
Elegant im Äußeren, nobel in der Gesinnung, war Hamm-Brücher eine der ersten Frauen mit „Lebensberuf Politik“. Sie verkörperte die stets unbequeme, aufrechte Autorität, wenngleich sie die großen Ämter nie bekleidete. Auch die Krönung ihres politischen Wirkens blieb ihr versagt. 1994, als die gebürtige Essenerin für die Nachfolge von Bundespräsident Richard von Weizsäcker nominiert wurde, stimmte die FDP aus Koalitionskalkül im dritten Wahlgang doch für Roman Herzog von der Union.
Über ein halbes Jahrhundert war Hamm-Brücher mit dem Münchner Stadtrat Erwin Hamm (CSU) verheiratet, mit dem sie Sohn und Tochter hat. Politisch blieb sie „freischaffende Liberale“. Dem von ihr 1965 begründeten Preis für Zivilcourage, den Theodor-Heuss Preis, folgte zum 90. Geburtstag der Münchner Bürgerpreis gegen Vergessen - für Demokratie. Ihr Engagement galt zudem stets dem Bildungssystem, dessen Verkrustungen die promovierte Chemikerin auch 1967-69 während ihrer Zeit als Staatssekretärin für Bildung in Hessen aufzubrechen versuchte. Später machte sie sich für eine Parlamentsreform mit stärkeren Abgeordnetenrechten stark sowie für Volksbegehren und -entscheide auf Bundesebene, für die sie in ihrem letzten Buch „Und dennoch... Erinnern für die Zukunft“ plädierte.
Wie ihre Familie gestern mitteilte, ist Hildegard Hamm-Brücher am Mittwoch mit 95 Jahren in ihrer Wohnung in München gestorben.