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Interview mit dem Zukunftsforscher Olaf-Axel Burow aus Baunatal: „Abschied vom Klassenzimmer“

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Von: Christina Hein

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Schüler lernen in Wutöschingen an Arbeitsplätzen. Jeder Schüler an der Alemannenschule hat ein Tablet. Klassenzimmer gibt es nicht.
Anders lernen: Schüler lernen in Wutöschingen an Arbeitsplätzen. Jeder Schüler an der Alemannenschule hat ein Tablet. Klassenzimmer gibt es nicht. © Patrick Seeger/dpa

Für Zukunftsforscher Olf-Axel Burow ist Schule im Wandel. Der wichtigste Schlüssel für die Zukunft ist für den Gesellschaftswissenschaftler aus Baunatal die Fähigkeit zum selbst organisierten Lernen.

Kassel – Die Sommerferien nahen, die Noten stehen fest und in vielen Schulen findet Unterricht light statt mit Wandertagen und anderem außerhalb des Klassenraums. Das war schon früher so. Wir fragten den Erziehungswissenschaftler und Zukunftsforscher Olaf-Axel Burow:

Können wir uns in den Schulen vertrödelte Zeit leisten angesichts dessen, was durch Corona alles verpasst wurde?

Nein, das können wir nicht. Wir sind im Zeitalter der großen Beschleunigung – ob es sich um das Insektensterben oder die Erderwärmung handelt. Alles entwickelt sich exponentiell und immer schneller. Das bedeutet, dass Heranwachsende Zukunftskompetenzen benötigen. Der wichtigste Schlüssel ist die Fähigkeit zum selbst organisierten Lernen.

Wie funktioniert das?

Indem Schülerinnen und Schüler nicht wie im Traditionsunterricht darauf warten, Instruktionen zu bekommen, sondern selbstständig Fragen entwickeln und pro aktiv die modernen Technologien nutzen.

Welche Rolle spielt dabei die Lehrkraft?

Die Lehrkraftrolle muss sich grundlegend wandeln, weil wir schon heute zeit- und ortsunabhängig überall lernen können. Wir sind von Wissen umstellt, und das Handy ist das Schweizer Messer des digitalen Zeitalters.

Also kein Teufelswerk?

Nein. Es geht um eine sinnvolle Nutzung des Smartphones als zeitgemäßes Werkzeug, dessen Gebrauch wir erlernen müssen. Das ist die Aufgabe von Lehrkräften. Sie werden künftig weniger Wissensvermittler sein, als Lernberater, Coaches und Lernumgebungsdesigner. Das bedeutet vor allem den Abschied vom Klassenzimmer. Bei der Neugestaltung von Lernumgebungen gibt es zurzeit eine Aufbruchstimmung.

Haben wir durch Corona etwas gelernt?

Wir haben gelernt, dass wir eine resiliente Schule brauchen, die auf Krisen und schnellen Wandel eingestellt ist. Dazu brauchen wir neben analogen Lehrmitteln die Fähigkeit, digitale Plattformen zu nutzen. Eine immer größere Rolle spielt dabei das personalisierte Lernen.

Das bedeutet?

Dass man digitale Techniken nutzt, um passgenau Aufgaben zuzuweisen, die dem Lernstand des Schülers entsprechen, sodass er in seinem eigenen Tempo und entsprechend seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse lernen kann.

Da gibt es ein eindrucksvolles Beispiel, wie das funktionieren kann, so wie bei der Alemannenschule in Wutöschingen in Baden-Württemberg, einer Gemeinschaftsschule, die 2019 mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde (Alemannenschule-wutoeschingen.de). Sie war eine von der Abwicklung bedrohte Hauptschule. Dann gab es über zwölf Jahre einen Entwicklungsprozess, in dem sie komplett umgestellt wurde.

Wie muss man sich das vorstellen?

Es gibt keine Schulbücher, keine Klassenräume, kaum noch klassischen Unterricht. Jede und jeder arbeitet im eigenen Tempo: mit Kompetenzrastern, das ist Unterrichtsstoff, der in drei Leistungsstufen unterteilt ist. Der Schüler entscheidet, auf welcher Ebene er arbeiten will. Es gibt keine Klassenarbeiten, keine Noten bis zur neunten Klasse. Auch entscheidet der oder die Lernende, welche Leistungsstufe in einem bestimmten Fachgebiet erreicht werden soll. Er oder sie geht dann zur Lehrkraft und wünscht sich einen Test. Danach gibt es einen differenzierten Gelingensnachweis. Besteht der Schüler den nicht, wird er gecoacht, um sich zu verbessern.

Und das funktioniert?

Aber ja. Das Ganze wird ja evaluiert und es wurde festgestellt, dass die Alemannenschule über dem Leistungsdurchschnitt vergleichbarer Schulen liegt.

Gibt es dort verbindliche Strukturen?

Die Kinder beginnen als „Lernstarter“ mit verhältnismäßig wenig Rechten, dann werden sie „Durchstarter“ und erreichen die Stufe „Lernprofi“. Das muss man sich erarbeiten. Die Lernprofis können tendenziell in die Schule kommen und gehen, wann sie wollen. Ein entscheidender Faktor: Die Lehrkräfte müssen bei vollem Deputat nur noch zwölf Stunden unterrichten, weil Schüler im hohen Maße selbstgesteuert arbeiten. In der übrigen Zeit kümmern sich die Lehrkräfte um die Lernplattform, das Coaching und die Gestaltung der Schule. Zentral für diese neuartige Schule ist das Lernatelier: ein Großraum für 250 Schüler. Hier hat jeder Lernende einen eigenen Arbeitsplatz mit i-Pad. Ein Drittel der Zeit arbeiten die Schüler allein – unterstützt mit der frei zugänglichen Lernplattform. Ein weiteres Drittel wird in projektübergreifen Teams gearbeitet. Es gibt von den Lehrkräften Inputs bei neuem Stoff. Die Schüler gehen nicht in den Unterricht, sondern an ihren Arbeitsplatz, wo sie in ihrem Tempo arbeiten. Es ist ein ganz anderes Bild von Schule, als wir es seit 200 Jahren kennen.

Ist der digitale Anteil nicht ein bisschen viel?

In Wutöschingen nennen die das Schmetterlingspädagogik. Es gibt zwei Flügel: links das selbstorganisierte Lernen, und im rechten Flügel wird gelernt durch Erleben. Am Nachmittag gibt es Clubs mit neigungsorientierten Angeboten vom Wald-, Mathe- bis zum Demokratieclub. Wichtig ist das Wording: Schüler heißen Lernpartner, Lehrer sind Lernbegleiter.

Was sagen denn die Lernbegleiter dazu?

Am Anfang wollten das die wenigsten. Dann wurde zunächst in der Klassenstufe 5 mit denen begonnen, die Lust hatten, Neuland zu betreten. Schritt für Schritt wurde der Wandel dann bis zur Oberstufe umgesetzt. Es begann damit, dass einige Lehrkräfte in den Ferien in den Baumarkt gingen und Holzkisten kauften, um individuelle Arbeitsplätze für die Schüler zu schaffen und die Klassenräume umgeräumt haben. Alles im vorhandenen Altbau. Nach zehn Jahren war die Gemeinde so begeistert, dass es einen Neubau gab. Jetzt sogar mit Oberstufe. Die Schüler der Oberstufe haben eigene Schlüssel und dürfen über 24 Stunden in der Schule arbeiten, wann immer sie wollen.

Macht das Modell Schule?

Ja, es haben sich Netzwerke gebildet, in Baden-Württemberg gehören ihm 37 Schulen an. Bei uns arbeitet in Marburg die Richtsberg-Gesamtschule mit einer „personalisierten Lernumgebung und Werkstätten“. Auch die berufliche Oskar-von-Miller-Schule in Kassel arbeitet mit großräumigen Lernateliers, wo Schüler individuell arbeiten können.

Haben Sie Hoffnung, dass sich da etwas bewegt?

Es braucht immer Leute mit überdurchschnittlichem Engagement. Denn es gibt Widerstände von manchen Schulämtern, Behörden und Eltern. Viele können sich nicht vorstellen, dass Lernen selbstorganisiert funktioniert. Es bedarf engagierter Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern und eine Unterstützung durch Politik, Wissenschaft und Behörden. Wir benötigen eine pro aktive Schulverwaltung: Wandel von Schulverwaltung zur Schulgestaltung. Corona war ein Entwicklungsschub und die wirksamste Fortbildungsmaßnahme der letzten 20 Jahre. Viele haben festgestellt: Wir können Schule und Unterricht durch Unterstützung digitaler Medien neu und krisensicher gestalten. Das ist eine große Chance. » 

Zur Person

Prof. Dr. Olaf-Axel Burow (70), Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni Kassel (bis 2017), Gestalttrainer, Kreativitäts- und Zukunftsforscher. Direktor des IF- Institute for Future Design (if-future-design), Autor zahlreicher Bücher u.a. zu positiver Pädagogik. Letzte Veröffentlichung: Schule der Zukunft. Sieben Handlungsoptionen, Beltz-Verlag. Burow, Vater von zwei Kindern, lebt mit seiner Familie in Baunatal.

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