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Oberbürgermeister Geselle zu den Kriegsfolgen: „Alles muss noch einmal überdacht werden“

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Von: Matthias Lohr, Florian Hagemann

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Solidarität mit der Ukraine: Am Freitag demonstrierten 1500 Menschen am Rathaus gegen den Krieg. Oberbürgermeister Christian Geselle stellt auch eine große Hilfsbereitschaft der Kasseler fest.
Solidarität mit der Ukraine: Am Freitag demonstrierten 1500 Menschen am Rathaus gegen den Krieg. Oberbürgermeister Christian Geselle stellt auch eine große Hilfsbereitschaft der Kasseler fest. © Andreas Fischer

Kassel will den Flüchtlingen aus der Ukraine eine Zuflucht bieten, sagt Oberbürgermeister Geselle. Die Folgen des Krieges könnten für die Wirtschaft groß sein. Und er überrascht mit einer Ankündigung.

Kassel – Im Gespräch äußert sich Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) zu den Folgen des Krieges in der Ukraine. Dabei geht es um die Flüchtlingssituation und die Versorgungslage.

Herr Geselle, wie gut ist Kassel auf die Ankunft der Flüchtlinge aus der Ukraine vorbereitet?

Gut. Wir bereiten uns fortlaufend auf die Unterbringung und Versorgung vor. Der Verwaltungsstab der Stadt Kassel hat seine Arbeit aufgenommen. Thema ist dort nicht nur die Logistik, sondern auch die medizinische Versorgung, besonders im Hinblick auf die noch andauernde Pandemie. Wir können auf die Erfahrungen der Jahre 2015 und 2016 zurückgreifen. Trotzdem ist es eine andere Situation als damals.

Warum?

Die Menschen aus der Ukraine durchlaufen kein klassisches Asylverfahren. Sie können zunächst mit einem Ausweisdokument für 90 Tage als Touristen einreisen. Die EU-Kommission wird wohl heute über den vorübergehenden Schutz der Geflüchteten beschließen und die Aufenthaltsdauer über die 90 Tage hinaus verlängern. Auch anders als 2015 reisen die Menschen derzeit nicht über Erstaufnahmeeinrichtungen ein, sondern kommen zunächst häufig bei Verwandten oder Bekannten unter und melden sich dann im Rathaus oder bei der Polizei.

Können Sie ungefähr abschätzen, wie viele Flüchtlinge nach Kassel kommen werden?

Grobe Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt sieben Millionen Menschen die Ukraine verlassen könnten. Es heißt, von ihnen könnte etwa eine Million nach Deutschland kommen. Rechnet man diese Zahl nach dem Königsteiner Schlüssel auf Kassel runter, käme man auf etwa 3500 Menschen. Zum Vergleich: 2015 und 2016 haben wir etwa 4000 Flüchtlinge aufgenommen – allerdings über einen viel längeren Zeitraum. Auch wenn nur etwa 1000 Menschen aus der Ukraine zu uns kommen würden, ist doch eins klar: Es ist eine riesige logistische und humanitäre Herausforderung.

Wo sollen die Menschen untergebracht werden?

Konkrete Orte möchte ich nicht nennen, da wir noch in Gesprächen stehen. Soweit es möglich ist, wollen wir die Menschen dezentral unterbringen – in möglichst kleineren Einheiten über das Stadtgebiet verteilt. Das hat sich bereits 2015/2016 bewährt. Einrichtungen mit mehr als 400 Plätzen sollte es nach Möglichkeit nicht geben. Sporthallen und öffentliche Einrichtungen kommen nicht in Betracht. Das wäre nur die Ultima Ratio. Die Beeinträchtigung des Alltags soll für alle so gering wie möglich gehalten werden. Wir wollen beispielsweise verhindern, dass Kinder nach Corona schon wieder keinen Sport machen könnten.

Zudem haben Sie die Kasseler dazu aufgerufen, Privathäuser, Wohnungen und andere geeignete Unterbringungsmöglichkeiten zu nennen.

Darauf haben sich bereits viele Kasseler gemeldet. Das ist ein tolles Zeichen der Hilfsbereitschaft. Wir versuchen, schnell und koordiniert zu handeln. Gerade bereiten wir wie 2015 eine Magistratsvorlage vor, um vergaberechtlich unkompliziert zu zügigen Entscheidungen in Beschaffungsfragen zu kommen. Der Schutz von Leib und Leben ist ein entsprechend höherwertiges Gut.

Inwieweit erschwert die Pandemie die Situation?

Die Pandemie hatten wir 2015/16 noch nicht. Aber das Thema haben wir natürlich im Fokus. Die Impfquote in der Ukraine soll bei nur etwas mehr als 30 Prozent liegen. Wir werden allen Menschen, die zu uns kommen, auch ein Impfangebot machen.

Wie können die Kasseler den Flüchtlingen sonst helfen?

Wir sind dankbar für jede Unterstützung – von Unternehmen gleichermaßen wie von Privatpersonen. Viele bieten ihre Hilfe an, wollen dolmetschen, stellen Wohnraum zur Verfügung, spenden Geld oder Sachmittel. Aktuell nehmen wir alle Angebote auf, filtern sie und bringen sie zu den Menschen – denjenigen, die zu uns kommen, und denjenigen, die in der Ukraine sind. Es gibt bereits mehrere Sammelaktionen, die das Nötigste an die ukrainische Grenze bringen.

Wie überall sind auch viele Kasseler über den Krieg in der Ukraine entsetzt. Was bekommen Sie da mit?

Es gibt ein großes Ausmaß an Angst und Sorge. Es geht ja nicht nur um den Krieg in der Ukraine, sondern auch um die unmittelbare Bedrohungssituation für uns. Das spüre ich in vielen Gesprächen. Wir sind am 24. Februar in einer anderen Welt aufgewacht. Wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel und die Wiederkehr der Ost-West-Konfrontation. Die ausgesprochenen Sanktionen werden nicht nur Auswirkungen auf die Energieversorgung haben.

Mit welchen weiteren Folgen rechnen Sie?

In unserer Region gibt es viele Betriebe, die bislang auch von Rohstoffen und Zulieferern aus Osteuropa abhängig sind – von der Automobilindustrie über den Maschinenbau bis zur Elektrotechnik. Es drohen Produktionsstopp und Kurzarbeit. Ich habe die Wirtschaftsförderung beauftragt, dass wir eine Lage-Einschätzung der Kasseler Unternehmen bekommen. Es ist zu befürchten, dass die Auswirkungen des Krieges für den wirtschaftlichen Sektor und die Beschäftigungssituation sehr schmerzhaft sein werden.

Wird die Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine anhalten?

Davon bin ich überzeugt. Wir alle müssen in dieser besonderen Lage zusammenstehen. Es geht nicht nur um die Menschen in der Ukraine, sondern um Frieden, Freiheit und Demokratie für ganz Europa. Zudem haben wir eine moralische Verpflichtung, unsere Hilfe anzubieten, denn im Zweiten Weltkrieg sind unter deutschem Namen viele Verbrechen begangen worden.

Was kann eine Kommune wie Kassel tun, um die Energiesicherheit zu gewährleisten?

Dazu ist natürlich erst einmal eine nationale Strategie notwendig. Zeitlich in die Karten spielen könnte uns der nahende Frühling, aber der nächste Winter kommt bestimmt. Um zu erörtern, welchen Beitrag wir leisten können, sitzen wir intensiv mit unserem Grundversorger, den Städtischen Werken, zusammen. Ich werde alles dafür tun, um unabhängig von der Dauer des Konflikts die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Zudem muss Energie für alle auch bezahlbar bleiben.

Kassel will bis 2025 aus der Kohle ausgestiegen sein. Steht dieser Plan nun auf der Kippe?

Das will ich nicht sagen. Andernorts wird über solche Fragen allerdings bereits debattiert. Wir haben eigene Kraftwerke und Versorgungsstrukturen und werden unserer Verantwortung gerecht werden. Noch einmal: Wir sind in einer anderen Welt wach geworden. Alles, was vorher im Fokus stand, muss vor diesem Hintergrund zumindest noch einmal überdacht werden.

Wird sich die Klimawende in Kassel also verzögern?

Den Klimawandel aufzuhalten, genießt bei mir weiter hohe Priorität. Wir werden keine Kehrtwende machen. Aber angesichts dieser Lage müssen wir unsere Möglichkeiten neu beurteilen. Dann sind wir klug aufgestellt.

Wie kann die Stadt auf die massiv steigenden Energiepreise reagieren?

Auch hier loten wir die eigenen Handlungsspielräume mit unserem Grundversorger aus. Wir müssen eine vorsorgende Politik betreiben. Wer früher von einem Betreiber zum anderen gewechselt ist, um Geld zu sparen, spürt nun die Folgen. Wie wertvoll öffentliche Grundversorger wie die Städtischen Werke gerade mit Blick auf eine Versorgungsstabilität sind, zeigt sich gerade jetzt. Die Verteuerung der Energie kann auch für viele Menschen aus der Mittelschicht zu einem großen Problem werden. Darum bin ich unter anderem für ein Absenken der Umsatzsteuer auf Energie.

Ein akutes Thema ist plötzlich auch die Cybersicherheit. Wie gut ist die Stadt auf russische Hacker-Angriffe vorbereitet?

Mit Blick auf die Daseinsvorsorge der Menschen in unserer Stadt haben wir schon seit einigen Jahren sichere IT-Strukturen aufgebaut. Das gilt nicht nur für die Verwaltung, sondern für den gesamten Stadtkonzern. Unsere Mitarbeiter werden wir weiter sensibilisieren, wachsam zu sein. Als vor wenigen Jahren vor allem südhessische Kommunen von Hackern lahmgelegt wurden, konnten wir den Angriff abwehren. Zuletzt haben wir keine Besonderheiten festgestellt. Sollte es Cyberkriegern gleichwohl gelingen, unsere Systeme zum Absturz zu bringen, sind wir auch darauf vorbereitet. Wir verfügen über Redundanzen.

Welche Reaktionen haben Sie auf Ihre Ankündigung erhalten, die Partnerschaften und Kooperationen mit den russischen Städten bis zum Kriegsende auszusetzen?

Viele positive. In einer Reaktion hieß es auch, die Entscheidung sei schade. Ich finde es übrigens ebenfalls sehr schade. Durch unsere Partnerschaften zu Jaroslawl und Nowy Urengoi durfte ich ein halbes Dutzend Mal in Russland sein. Ich habe viele persönliche Freundschaften geknüpft. Das russische Volk ist nicht unser Gegner, unsere Kritik gilt der russischen Staatsführung. Ich hoffe, dass wir die Partnerschaften fortsetzen können, wenn der Krieg vorbei ist. Das sind wir auch den Menschen schuldig, die in Russland gerade gegen Putin auf die Straße gehen.

2018 haben Sie den russischen Außenminister Sergej Lawrow bei einem Termin in Berlin getroffen. Anlass war eine Auszeichnung für die Kasseler Partnerschaft mit Jaroslawl und Nowy Urengoi.

Die Partnerschaft ist eine Art „kleine Außenpolitik“, die Städte betreiben können. Manchmal bewirken diese kleinen Räder mehr als die großen. Mein Großvater hat mir schon als Kind klar gemacht: „Krieg ist große Scheiße, Christian.“ Er hat mir erzählt, was er im Zweiten Weltkrieg in Russland erleben musste. Darüber habe ich auch mit gleichaltrigen Menschen in unseren Partnerstädten geredet. Gemeinsam sind wir zur Erkenntnis gelangt: Unsere Großväter haben sich beschossen, und wir sitzen heute freundschaftlich zusammen. Wir haben uns vorgestellt, wie froh unsere verstorbenen Großväter darüber wären, wenn sie uns in dieser Situation sehen könnten. Das hat mich tief berührt. Der Westen und auch ich haben Putins Absichten lange falsch eingeschätzt, aber dieser Austausch mit den Menschen war und ist trotzdem richtig und wichtig. (Florian Hagemann und Matthias Lohr)

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