Zeitenwende in der Kasseler Politik: All das hat sich in einer Woche verändert

Koalitions- und Minister-Aus, neue Dezernentin – innerhalb einer Woche hat sich in der Kasseler Politik viel getan. Die Folgen könnten weitreichend sein.
Kassel – Seit voriger Woche hat der Begriff Zeitenwende, der schon jetzt gute Aussichten hat, zum Wort des Jahres 2022 gekürt zu werden, auch in Kassel eine Bedeutung. Für manchen mag dies etwas hochgegriffen sein, da es in der heimischen Politik nicht wie im Berlin von Kanzler Olaf Scholz um 100 Milliarden Euro für die Landesverteidigung geht, aber nach letzter Woche könnten auch für Kassel neue Zeiten anbrechen, die große Veränderungen mit sich bringen.
Erstens zerbrach am Freitag nach einem wochenlangen Hickhack die grün-rote Rathauskoalition. Zweitens verlor am Dienstag mit Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) die letzte Nordhessin im Wiesbadener Kabinett ihren Posten. Und drittens trat am 1. Juni die Grünen-Politikerin Nicole Maisch ihr Amt als Dezernentin für Jugend, Gesundheit, Bildung und Chancengleichheit an. Ihre Personalie ist vor allem deswegen interessant, weil die Nachfolgerin der nach Berlin gewechselten Ulrike Gote immer noch als Herausforderin von Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) für die Wahl im März 2023 gehandelt wird.
Das alles ist erstaunlich, weil in den Wochen davor viele Gerüchte kursierten, aber wenig bis gar nichts passierte. Die Grünen hatten ihrem Koalitionspartner SPD bereits Anfang Mai ein Ultimatum gestellt. Wegen eines Verkehrsversuchs hatte Geselle ihren Dezernenten Christof Nolda in dessen Kompetenzen beschnitten. Die stärkste Fraktion im Stadtparlament forderte unter anderem, dies zurückzunehmen.
Man musste kein Prophet sein, um zu ahnen, dass es das nicht geben würde. Geselle hätte so sein Gesicht verloren. Eine Opposition innerhalb der SPD-Fraktion gegenüber dem Rathaus-Chef gibt es nicht. Nun stehen beide Parteien trotz vieler Gemeinsamkeiten im vor knapp einem Jahr beschlossenen Koalitionsvertrag vor einem Scherbenhaufen.
Die Grünen klagen, die Sozialdemokraten hätten die Koalition zerstört, weil sie nur noch das machten, was der OB sagt. Und der OB wirft dem ungeliebten Koalitionspartner vor, er habe sich aus der Verantwortung gestohlen. Ein neues Bündnis ist nicht in Sicht. Ob die Stadtverordneten auch mit wechselnden Mehrheiten konstruktiv arbeiten können, muss sich erst zeigen. In der Vergangenheit hat dies nur leidlich geklappt.
Noch ungewöhnlicher war das, was in Wiesbaden passierte. Am Sonntag bevor Boris Rhein zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde, erhielten Journalisten Anrufe von Oppositionspolitikern. Es sei nun klar, hieß es, dass Kühne-Hörmann gehen müsse. Mit dem Juristen Roman Poseck stehe ihr Nachfolger fest. Bestätigt wurde die Personalie einen Tag später dann nicht vom designierten Regierungschef, sondern mit einem Tweet vom Oberlandesgericht Frankfurt, dessen Präsident Poseck ist. So etwas gibt es auch nicht oft.
Kühne-Hörmann hat nun erstmals seit 13 Jahren kein Ministeramt mehr und Nordhessen jetzt auch niemanden mehr im Kabinett. Die heimische SPD wertet dies als Kampfansage an eine ganze Region. Die Kasseler Sozialdemokratin Esther Kalveram zählte auf Facebook genüsslich mit, wie oft Rhein in seiner knapp einstündigen Regierungserklärung das Wort „Nordhessen“ sagte. Ergebnis: kein einziges Mal.
Derweil könnte Kühne-Hörmanns politische Zukunft bald in Nordhessen liegen. Nicht wenige in Kassel vermuten, dass die Christdemokratin zur OB-Wahl antritt. Sie selbst hat dazu bislang nichts gesagt.
Damit ist sie ebenso Polit-Profi wie die neue Dezernentin Maisch. Die hatte im Februar im HNA-Interview auf die Frage, ob sie eine OB-Kandidatur ausschließen könne, gesagt: „Ausschließen kann ich nur, dass ich Papst werde.“ Es ist also durchaus möglich, dass Kassel ab 2023 erstmals von einer Frau regiert wird. Auch das wäre eine Zeitenwende. (Matthias Lohr)