Das heißt, man sollte in jedem Fall mit Kindern über den Krieg sprechen? Oder nur, wenn sie fragen?
Sicherlich ist es nicht empfehlenswert, das Thema vor Kindern zu tabuisieren – eben weil Kinder früher oder später über andere Kinder oder Medien damit in Berührung kommen. Trotzdem gibt es kein Patentrezept. Denn es hängt viel davon ab, in welcher Verfassung derjenige ist, der mit dem Kind über den Krieg spricht. Auch viele Erwachsene sind in diesen Tagen aufgewühlt und verängstigt angesichts der Nachrichten aus der Ukraine. Es ist aber wichtig, dass man dem Kind in einem Gespräch Sicherheit und Rückhalt vermitteln kann. Wenn man sich dazu gerade nicht in der Lage fühlt, sollte man das Reden in der Situation besser an den Partner delegieren.
Dürfen Kinder nicht wissen, dass Eltern auch Angst haben?
Genau das macht die Schwierigkeit bei der Sache aus. Grundsätzlich ist es schon wichtig, dass Eltern authentisch bleiben. Kinder haben ein feines Gespür und wissen meist schon, wenn es ihren Eltern nicht gut geht. Eltern können daher durchaus sagen, dass die Ereignisse sie beschäftigen und dass sie selbst nicht genau wissen, wie sich die Situation entwickelt. Aber nach Möglichkeit sollten sie dem Kind glaubhaft die Botschaft vermitteln können: Wir sind für Dich da, und gemeinsam werden wir das bewältigen. Kinder sollten die Gewissheit haben, dass sie sich mit ihren Fragen und Sorgen jederzeit an die Eltern wenden können.
Und wenn Eltern sich gerade schwer damit tun, Fels in der Brandung zu sein?
Ein Kind nimmt keinen Schaden, wenn man selbst kurzzeitig damit überfordert ist. Aber umso mehr halte ich es für wichtig, dass das Thema auch in den Schulen im Unterricht aufgegriffen wird und die Kinder mit anderen Kindern und mit den Lehrkräften darüber reden können, wie es ihnen mit der Situation geht. Auch während der großen Flüchtlingsströme 2015/2016 haben viele Schulen das Thema aufgegriffen. Sprechen ist aus Sicht der Psychotherapie immer eine angemessene Form, um Neues, Ungewisses und Schwierigkeiten miteinander teilen zu können.
Haben Sie konkrete Tipps, wie man Kindern den Krieg erklären kann?
Zunächst ist es hilfreich, das Kind zu fragen, wenn es beispielsweise die Radionachrichten im Auto mitgehört hat, was es davon verstanden hat, was es dazu denkt und wie es ihm damit geht. Dann kann man ein Empfinden dafür bekommen, welche Fragen das Kind beschäftigen. Kindern im Grundschulalter kann man ganz grundsätzlich erklären, dass Menschen Konflikte austragen und dabei Waffen benutzen. Man kann auch sagen, dass Zerstörung, Verletzung und Tod dadurch hervorgebracht werden. Aber zu viele Details würde ich in diesem Alter nicht nennen. Manchmal kann die Faszination von Kindern für das, was da geschieht und wofür sich alle Erwachsenen interessieren, groß sein. Dann ist es wichtig, klarzustellen, dass Krieg vielen Menschen Leid bringt und nichts Gutes ist.
Wie kann man mit Kindern im Kita-Alter über das Thema sprechen?
Das ist deutlich schwieriger, weil sie vieles eben noch nicht richtig verstehen, auch den Tod nicht. In aller Ernsthaftigkeit sollte man Kleinkindern das Thema noch nicht zumuten. Aber sie kennen Aggression und man kann ihnen klar machen, dass bei Streit und Wut auch viel kaputt gehen kann. Es hört sich für Erwachsene vielleicht etwas niedlich an, wenn ich das sage. Doch man könnte auch erklären: Manches kann man nachher wieder reparieren und aufbauen, und wenn sich Menschen verletzen, kann man ihnen helfen. Bei den Kleineren, die vieles noch nicht einordnen können, sondern nun spüren, ist es ganz wichtig zu vermitteln: Deine Eltern sind für Dich da und beschützen Dich.
Ab welchem Alter kann man mit Kindern die Nachrichten schauen?
Es gibt ja Kinderkanäle und beispielsweise die „Logo“-Kindernachrichten. Da kann man davon ausgehen, dass die Themen pädagogisch aufbereitet werden und auch die Bildauswahl kindgerecht ist. Die normale Tagesschau würde ich – je nach der individuellen kindlichen Reife – frühestens mit Kindern ab 10 bis 12 Jahren schauen. Zwar werden dort in der Regel keine Menschen gezeigt, die sterben, sondern vor allem zerstörte Gebäude. Für Erwachsene ist klar, was das bedeutet, für Kinder vielleicht nicht immer. Aber es kann sein, dass das Gesehene in ihrer Fantasie weitergeht. Deshalb sollte man sich nach solchen Bildern in einer Sendung Zeit nehmen, um darüber zu reden. Mit jüngeren Kindern würde ich eher nur ein einzelnes Foto anschauen, etwa in der Tageszeitung.
Erst zwei Jahre Pandemie, nun der Krieg: Wie stark werden diese Ereignisse die jetzige Kindergeneration prägen?
Corona hat Spuren hinterlassen und wird auch weiter nachwirken. Nach dem, was wir bisher sehen und was Studien zeigen, haben Kinder ab dem Teenageralter am meisten gelitten. Mit dem Krieg in der Ukraine geht es mit ängstigenden Nachrichten nun nahtlos weiter. Aber es gibt aus meiner Sicht einen entscheidenden Unterschied. Was jetzt gerade passiert, ist anders greifbar: Es gibt einen Ort, an dem es geschieht und man kann es sehen. Corona mit dem unsichtbaren Virus in der Luft hingegen war schwer zu fassen und dadurch auch schwieriger zu verstehen und zu verarbeiten. Viele Kinder haben in der Pandemie heftige Schuldgefühle entwickelt, dass sie ihre Großeltern oder andere nahe stehende Menschen angesteckt haben oder sie gefährden könnten. Den Krieg, so grausam er ist, kann man immerhin besser mit Kindern besprechen.
Kann es auch helfen, mit Kindern ins Tun zu kommen, etwa indem man hilft oder ein Friedenslicht anzündet?
Das ist ein guter Hinweis. Malen ist oft ein gutes Mittel, um Kindern bei der Verarbeitung der eigenen Fantasien zu helfen und besser über Dinge sprechen zu können. Wer einen Bezug dazu hat, kann mit einem Kind auch beten oder eine Kerze in der Kirche anzünden. Ebenso kann man das Kind einbeziehen, wenn man Geld oder Sachspenden auf den Weg bringt. Man kann auch gemeinsam überlegen: Was würdest Du hergeben für ein Kind aus der Ukraine? Wahrscheinlich wird diese Situation sich schneller einstellen als wir denken: Schon bald werden die ersten Kinder aus geflüchteten Familien hier ankommen und dann auch in Schule und Kita gehen. Dann kann man mit Kindern aktiv werden, um die Kinder aus der Ukraine und ihre Familien willkommen zu heißen.
Prof. Dr. Ulrich Müller (64) ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und seit 2020 Vorsitzender des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Kassel, das Aus- und Weiterbildung für Kinder- und Jugendlichentherapeuten anbietet. Er arbeitet in eigener Praxis in Fulda und ist als Professor an der Hochschule Hannover tätig. Müller lebt mit seiner Frau in Kassel. Zur Familie gehören zwei erwachsene Töchter.