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Auf einmal eine Großfamilie: Menschen aus Kassel nehmen Verwandte aus der Ukraine auf

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Von: Katja Rudolph

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Sicher, aber nicht erleichtert: Uliana und Oliver Bischoff mit Hund Jonty und ihrer Nichte Violetta (hinten, von links) haben Swetlana Sokolova, Yulia Voronaia und Sohn David sowie Großmutter Liubov Voronaia aufgenommen.
Sicher, aber nicht erleichtert: Uliana und Oliver Bischoff mit Hund Jonty und ihrer Nichte Violetta (hinten, von links) haben Swetlana Sokolova, Yulia Voronaia und Sohn David sowie Großmutter Liubov Voronaia aufgenommen. © ANDREAS FISCHER

Mehr als 1600 Geflüchtete aus der Ukraine sind bereits in Kassel und Umgebung angekommen. Wir haben ein Kasseler Ehepaar besucht, das Verwandte und Freunde aufgenommen hat.

Kassel – Im Einfamilienhaus des Ehepaars Bischoff am Jungfernkopf kommt es derzeit mitunter zu Wartezeiten vor dem Bad: Der Kasseläner Oliver Bischoff und seine aus der Ukraine stammende Frau Uliana haben neben ihrer Nichte Violetta, die vor knapp fünf Jahren zum Studium hierher kam, nun vier weitere Verwandte aus der Ukraine aufgenommen. In einer Zweitwohnung in Seesen, wo Uliana Bischoff als Ärztin arbeitet, haben sie außerdem eine Freundin aus der Ukraine, ihre Tochter sowie deren drei Katzen untergebracht.

„Es ist natürlich etwas enger geworden“, sagt Oliver Bischoff. Aber auf dem Sofa im Wohnzimmer könnte man notfalls auch noch Platz zum Schlafen schaffen. Ulianas Mutter Liubov Voronaia kam bereits zu Weihnachten nach Kassel. Die 63-Jährige, deren Ehemann wenige Monate zuvor an Corona gestorben war, hatte schon ein ungutes Gefühl, wie es in ihrer Heimat weiter geht. Sie reiste mit einem großen Koffer an, in dem sie alle alten Familienfotos mitbrachte. Zur Sicherheit, damit einmal Erinnerungen bleiben. Die Familie stammt aus der Stadt Balakleja im Osten den Ukraine – unweit der Metropole Charkiw, die inzwischen weitgehend in Trümmern liegt.

Auch Uliana Bischoffs Schwester Yulia lebt dort mit ihrer Familie. In unmittelbarer Nähe des größten Munitionslagers der Ukraine. 2017 erlebte sie mit, wie es bei schweren Explosionen in Flammen aufging. „Das war ein Schock“, sagt sie. Damals war von Sabotage die Rede. Je mehr sich die Lage zwischen Russland und der Ukraine nun zuspitzte, desto größer wurde ihre Angst – auch um den elfjährigen Sohn David.

Anfang Februar kamen Mutter und Sohn nach Kassel, um ein wenig Ruhe zu suchen. Eigentlich wollten sie am 26. Februar zurückfliegen, auch um ihre Arbeit als Musiklehrerin nicht zu riskieren. Doch dann marschierte Putins Armee ein. Aus dem Besuch bei ihrer Schwester wird nun wohl ein neues Leben. Statt der bevorstehenden Beförderung im Beruf fängt die Ukrainerin bei null an. Ihr Mann und Davids Vater, der eine Spedition hat, ist noch in der Heimat, riskiert täglich sein Leben, um andere Menschen mit seinen Fahrzeugen in Sicherheit zu bringen.

Ihre 24-jährige Tochter Violetta, die seit fast fünf Jahren bei den Bischoffs lebt und gerade ihren Master in Psychologie macht, übersetzt für ihre Familie. Auf die Frage, wie er es finde, jetzt in Deutschland zu sein, sagt ihr Bruder David höflich: „Mir gefällt es hier.“ Was er nicht sagt: Nicht nur den Vater, auch seinen Hamster, seine Fische, alle Freunde und sämtliche Spielsachen musste er zurücklassen. „Man muss weiterleben, weiter in die Schule gehen und weitermachen“, sagt er und klingt dabei viel, viel älter als elf Jahre.

Fast alles zurückgelassen haben auch Swetlana Sokolova und ihre 13-jährige Tochter Lisa – das Patenkind der Bischoffs. Sie haben am 24. Februar in der Stadt Charkiw die ersten Bomben gehört und den Feuerschein gesehen, als Putins Armee einmarschierte. Als in den kommenden Tagen immer mehr zerstört wurde, beschloss sie zu flüchten, erzählt die 44-Jährige, „bevor es zu spät ist.“

Um die Hände für die drei Katzen in ihren Transportkisten frei zu haben, nahmen Mutter und Tochter nur zwei kleine Rucksäcke mit. Fünf Tage dauerte die Flucht in völlig überfüllten Zügen. Auf die Frage, warum es ihr wichtig war, die Tiere mitzunehmen, antwortet Swetlana Sokolova fast entrüstet: „Ich konnte sie doch nicht verlassen!“

Ihr Mann, der als Arzt in einer Geburtsklinik arbeitet, ist noch in Charkiw. Dort gibt es keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser mehr und kaum noch Lebensmittel. Immer wieder geht der Blick der 44-Jährigen ins Leere. Die Gedanken sind in der Heimat.

Als „Achterbahn“ bezeichnet Oliver Bischoff die Gefühlslage der Freunde und Verwandten aus der Ukraine. In die Dankbarkeit, in Sicherheit zu sein, mischten sich zunehmend Schuldgefühle, nimmt der 56-Jährige wahr. Seine Nichte Violetta nickt. „Die Menschen leiden und sterben dort und man kann nicht helfen“, sagt sie. Das sei mit jedem Tag schwerer auszuhalten.

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