Aufruf zum Märtyrer-Tod auf Königsplatz: „Ging um Solidarität mit Türkei“

Kassel. Nachdem ein Video aufgetaucht ist, in dem zu sehen ist, wie ein Kasseler Imam auf dem Königsplatz zum Märtyrer-Tod aufruft, erklärt sich der Mann gegenüber unserer Zeitung.
Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei versammelten sich am Abend des 16. Juli 2016 etwa 500 Menschen – zumeist mit türkischen Wurzeln – auf dem Kasseler Königsplatz, um gegen die Putschisten zu demonstrieren und ihre Solidarität mit der türkischen Regierung zu zeigen. Da bei der Kundgebung nur in türkischer Sprache gesungen und gesprochen wurde, blieb Passanten und Beobachtern indes nur die Rolle von Zaungästen. Nur auf einem einzigen Banner stand der deutsche Satz „Wir stehen hinter der türkischen Regierung.“
Die Passanten, die nicht der türkischen Sprache mächtig sind, konnten daher auch nicht
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verstehen, dass Semih Ögrünc, Imam der türkisch-muslimischen Gemeinde am Mattenberg, auf dem Königsplatz – wörtlich übersetzt – „zum Märtyrer-Tod“ aufgerufen hat. Er sagte, dass wenn es eine Anordnung geben wird, das Leben für das Vaterland zu opfern, die Menschen Märtyrer werden sollten.
Gegenüber der HNA hat der Imam, der seit drei Jahren in Kassel lebt, diese Aussage jetzt interpretiert. Es gehe nicht darum, zum Krieg oder Tod aufzurufen, weil das oberste Gebot im Islam ein Gebot der Gewaltfreiheit sei.
Bei der Kundgebung sei es nur darum gegangen, im übertragenen Sinn Solidarität mit der Nation und dem Staat zu bekunden. Dabei sei es auch nicht um die AKP-Regierung, sondern um die demokratischen Institutionen in der Türkei gegangen.
Die Menschen, die durch die Kugeln der Putschisten im Juli 2016 gestorben sind, würden in der Türkei als Märtyrer gesehen, erklärt der Imam. Er habe in der Predigt ausdrücken wollen, dass man sich ebenfalls gegen die Putschisten gestellt hätte, wenn man dazu aufgefordert worden wäre.
Die AKP und die Ditib-Gemeinden hätten keine Verbindung, versichert Ogrünc. Allerdings seien die muslimischen Gemeinden deshalb nicht unpolitisch.
„Wir sind eine Glaubensgemeinschaft und haben mit politischen Strömungen nichts zu tun. Wir sind deutsche Muslime. Die türkische Politik kann und darf nicht unser Thema vor Ort sein“, sagt Mahmut Eryilmaz, der ehrenamtliche Dialogbeauftragte der Gemeinde.
Er liefert auch einen Erklärungsansatz dafür, warum die Kundgebung nur auf Türkisch stattfand: Überwiegend seien Türken aus der ersten und zweiten Generation vor Ort gewesen. Die hätten eine andere Bindung an die Türkei und könnten weniger Deutsch sprechen. „Die in Deutschland geborene und aufgewachsene Generation war kaum vertreten“, sagt Eryilmaz. Bald werde aber diese Generation der deutschen beziehungsweise Kasseler Muslime mehr Verantwortung in den Gemeinden übernehmen und mit Sicherheit bei solchen Anlässen auch Deutsch sprechen.
Eryilmaz hat Verständnis dafür, dass sich manche Menschen darüber ärgern, dass sie die Demonstranten nicht verstanden haben. „Die Verärgerung teile ich sogar“, sagt der 30-Jährige. „Wenn der Sinn der Dialog ist, muss dort auch Deutsch gesprochen werden, zumal es auch die Lebenswirklichkeit meiner Generation widerspiegelt.“
Von Ulrike Pflüger-Scherb und Serdar Arslan