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Vom Obdachlosen zum Bestseller-Autor

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Von: Christina Hein

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 Ein Obdachloser schläft auf einer Bank auf dem Boulevard Unter den Linden in Berlin.
Hartes Leben: Ein Obdachloser schläft auf einer Bank auf dem Boulevard Unter den Linden in Berlin. ARCHI © Jens Kalaene/dpa

30 Jahre lebte er auf der Straße. Dann wurde Richard Brox von Enthüllungsreporter Günter Wallraff als „Experte“ entdeckt. Brox schrieb ein Buch und wurde Bestseller-Autor.

Kassel – Richard Brox gehört zu den Menschen, wo man sich fragt: Wie viel Leid und Unmenschlichkeit kann jemand ertragen, ohne daran zugrunde zu gehen? Woher holt ein vom Schicksal so Gezeichneter seine Kraft?

Richard Brox, Bestseller-Autor
Richard Brox © Hein, Christina

Heute ist Richard Brox Bestseller-Autor des bedeutenden Rowohlt-Verlags. Mit 60 000 verkauften deutschsprachigen Büchern (9. Auflage) und 40 000 Exemplaren in Mandarin sowie einem Literaturpreis, der ihm 2020 in Taiwan für das beste fremdsprachliche Buch verliehen wurde, kann Richard Brox mit Fug und Recht von sich sagen: „Ich bin ein bisschen stolz auf mich.“ Sein Buch „Kein Dach über dem Leben: Biographie eines Obdachlosen“ machte ihn über Nacht berühmt. In seinem Wikipedia-Eintrag heißt es: „Brox ist ein deutscher Autor und Blogger, der mehr als 30 Jahre lang wohnungslos war und sich für wohnungslose Menschen einsetzt. Sein Sachbuch wurde zum Bestseller.“ Seitdem saß er als gefragter Gesprächspartner im Fernsehen bei Anne Will, Frank Elsner und Markus Lanz auf dem Sofa.

Das Leben des heute 58-Jährigen ist mit dem Schlagwort „30 Jahre Leben auf der Straße“ grob zusammengefasst. Grob, denn allein seine Herkunft und Kindheit waren von großer Pein geprägt. Die Eltern, ein Sinto (Angehöriger der Sinti und Roma), und eine polnische Jüdin, haben Verschleppung für schwere Zwangsarbeit bei Henschel in Kassel sowie Folter und Menschenversuche in NS-Konzentrationslagern überlebt. Aber nie verwunden. Wiedergutmachung gab es für sie nicht.

Psychisch und physisch aufs Schwerste verletzt und traumatisiert, konnten die Eltern dem Sohn keine Nestwärme geben. „Nach außen waren sie gut zu mir, aber innerlich waren sie wie tot“, sagt Brox, „Ich wusste als Kind überhaupt nicht, was mit denen los ist.“ Mit der Schule kam Richard, der im Elternhaus kein Deutsch sprach, aber dafür auf dem Klavier Chopin interpretieren und Schach spielen konnte, nicht zurecht. „Ich war ein Totalverweigerer, galt früh als schwer erziehbar“, sagt er heute. Ohne Larmoyanz, ohne Anklage, ganz sachlich.

Die Gesellschaft reagierte, indem sie das Kind mit fünf ins erste Heim steckte. Richard durchlief eine schlimme Heimkarriere mit sadistischen Erziehungsmethoden gegenüber den wehrlosen Kindern – schwer beschädigt. „Ich konnte mir nicht erklären, woher meine Aggressionen kamen, jetzt weiß ich, dass meine Ohnmacht sie ausgelöst haben.“ Ohne Schulabschluss oder Ausbildung zog er volljährig in die Zwei-Zimmer-Wohnung der Eltern in Mannheim, inzwischen gezeichnete von seiner Drogensucht und Suizidgedanken.

Und dann kam das, was Richard Brox als ein „Riesen- Unglück“ bezeichnet: die Zwangsräumung. „Wegen 1500 DM Mietrückständen – die Eltern waren inzwischen verstorben – saß ich auf der Straße.“ Die Wertgegenstände der Mutter, ein Konzertflügel und Schmuck, wurden auf Nimmerwiedersehen eingezogen. Brox: „Das Zuhause zu verlieren, ist, als würde man seiner Seele beraubt.“

Nach einem Drogenentzug Ende der 80er-Jahre landete Brox auf der Straße. Rauf und runter durchstreifte er die Republik, „machte Platte“, wie das Draußen-Leben im Jargon heißt, lebte in Obdachlosenunterkünften, erlebte Not - aber auch Hilfen. Er nahm soziale Angebote in Anspruch. „Ich kenne bestimmt 5000 Obdachlosen-Einrichtungen in Deutschland.“ Auch in Kassel, der Stadt, in der seine Mutter als Zwangsarbeiterin gelitten hatte und vor der sie ihn immer als „mörderischen Ort“ gewarnt hatte, hielt er sich häufig auf.

„Ich habe mich in Kassel mit seinem guten Hilfesystem für Obdachlose immer wohl gefühlt“, sagt Brox. Nirgendwo in der Republik habe er die Hilfe, etwa durch den Verein Soziale Hilfe oder die Heilsarmee mit ihren Heimen für Wohnungslose als so professionell und gut empfunden, sagt er rückblickend. „Ich bin der Stadt Kassel für alle in den letzten Jahrzehnten geleisteten Hilfen für immer dankbar.“ Diesen Satz zu sagen, ist ihm ein Anliegen.

Zu einer schicksalhaften Begegnung kam es für Brox 2009. Da holte ihn der Enthüllungsreporter Günter Wallraff für seine Recherchen zu seiner ZDF-Reportage „Unter Null – obdachlos durch den Winter“ in sein Team. Bald stellte Wallraff das Talent des Mitarbeiters fest und animierte ihn – nachdem er ihm einen Historiker als Co-Autor vermittelt hatte, sein eigenes Buch zu schreiben. Dafür stellte er Brox zum Arbeiten Wohnraum zur Verfügung. „Wallraff hat mir immer wieder geholfen – auch finanziell“, sagt Brox. „Er ist ein Freund geworden.“ Das Buch des Autodidakten, der ein leidenschaftlicher Schachspieler ist und dem ein hoher IQ attestiert wurde, erschien 2017.

Auf die Frage, wo er das Schreiben gelernt habe, antwortet Brox, der immer wieder überrascht: „Ich lese viel: Edgar Allan Poe, Jules Verne, Johannes Mario Simmel.“

Heute hat Brox das Leben als Berber aufgegeben. Er hat einen festen Wohnsitz und lebt in einer Wohngemeinschaft in Köln. Das sei ein gutes Gefühl, sagt er. Er habe jetzt seine Aufgabe als Autor. Der Wunsch zu schreiben überkomme ihn unvermittelt, erzählt er: „Ich spüre: Heute muss ich schreiben. Dann hole ich mir Knabberzeug und Süßes, und losgeht’s.“

Im Herbst zur Frankfurter Buchmesse will Brox sein zweites Buch präsentieren. Mit den Co-Autoren Sylvia Rizvi und Albrecht Kieser widmet er sich erneut einem sozialen Thema und bringt sein persönliches Aufbegehren gegen Antisemitismus, Rassismus und Homophobie sowie jede Form von Ausgrenzung zum Ausdruck. Wenn ihn, den Sohn eines Sinto und einer Jüdin, jemand fragt: Was bist Du eigentlich?, antworte er: „Ich bin Agnostiker – auf der Suche nach Gott. Aber ich habe ihn noch nicht gefunden. Vielleicht findet er ja mich, er weiß ja, wo er suchen muss.“

Information

Zurzeit hält sich Richard Brox in Kassel für verschiedene Projekte auf. Auf seinem Programm stehen zwei Lesungen aus seinem Buch „Kein Dach über dem Leben“ (Rowohlt, 220 Seiten, Taschenbuch 10 Euro, E-Book 9,90 Euro): Am Freitag, 31. März, ab 18 Uhr, liest er im Panama, Kölnische Straße 35, Eintritt frei, Spenden gehen ans Panama. Zu einer zweiten Lesung lädt die Heilsarmee für Freitag, 5. Mai, ein. Der Ort wird noch bekanntgegeben. Außerdem hat Brox am Staatstheaterprojekt „Leere Stadt“ mitgearbeitet, das am 19. Mai im Tif Premiere hat. Dazu wurden Filmaufnahmen im Sozial-Center der Heilsarmee gemacht.

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