Beherzt eingegriffen: Tonnenschwere Glocke der Martinskirche mit Körpereinsatz geläutet

Das beherzte und körperlich anstrengende Eingreifen eines Küsters und eines Lichtkünstlers rettete am Jahrestag der Kasseler Bombennacht das Glockengeläut der Martinskirche.
Um ein Haar wäre ausgerechnet die wichtigste Glocke der Martinskirche am Jahrestag der Bombennacht nicht zu hören gewesen. Küster Rudolf Schleuning und Peter Zypries, der die Kirche beleuchtet hat, sorgten mit vereinten Kräften dafür, dass es doch noch klappte. Und zwar per Hand, ganz oben im Glockenturm. Doch der Reihe nach.
Um 20.44 Uhr am Montagabend sollte es losgehen. Zum 75. Jahrestag der Bombennacht gab es erstmals eine Gemeinschaftsaktion der Kasseler Kirchen. Alle Glocken sollten läuten und so daran erinnern, wann vor 75 Jahren die ersten von insgesamt 400 000 Bomben fielen. 10.000 Menschen starben. Ausgerechnet in der Martinskirche, wo die Gedenkfeier der Stadt und der Gottesdienst zur Bombennacht stattfanden, gab es allerdings unerwartete Schwierigkeiten.
Bei einer Glockeninspektion vor zwei Wochen sei überraschend festgestellt worden, dass der Motor für die Osanna-Glocke Probleme machte, sagt Pfarrer Willi Temme. Bis zum Jahrestag der Bombennacht sei es nicht möglich gewesen, das nötige Ersatzteil zu besorgen. Er habe bereits zum Ende des Gottesdienstes darauf hingewiesen.
„Es war allen klar, dass der Motor für die Osanna-Glocke nicht funktionierte“, sagt Peter Zypries. Der sorgt seit Jahren mit seiner Agentur Kunstlicht dafür, dass Gebäude bei besonderen Anlässen attraktiv ins Licht gesetzt werden. Das war am Montag auch bei der Martinskirche der Fall.

Weil man sich schon länger kennt, bat ihn Küster Schleuning, mit nach oben in den Glockenturm zu kommen und den Einsatz dort mit Fotos zu dokumentieren. Schleuning wollte die Glocke zusammen mit seinem Sohn Peter per Hand läuten. Fast so wie früher, als es noch keinen elektrischen Antrieb gab.
Mit einem Unterschied: Nicht die tonnenschwere Glocke sollte in Bewegung gesetzt werden, sondern lediglich der Klöppel. Und zwar mit zwei Seilen, die den Stab mit Schwung von links nach rechts bewegen sollten.
Weil das Läuten da oben im Glockenturm mächtig dröhnt, hatte der Küster auch an Ohrschützer gedacht.
Was aber niemand für möglich gehalten hätte: Als Rudolf Schleuning pünktlich um 20.44 Uhr an dem Seil zog, riss der Strick. Auf der anderen Seite war es genauso. Was also tun? Schleuning und Zypries waren nur kurz geschockt.
Dann entschieden sie sich, noch etwas höher Richtung Glocke zu klettern. „Die beiden haben sich abgewechselt und den schweren Klöppel immer wieder gegen die Glocke geworfen“, sagt Pfarrer Willi Temme. Damit hätten sie den Abend gerettet.
Denn was wäre das stadtweite Glockengeläut ohne die Osanna der Martinskirche gewesen? Ohne die Nachfolgerin der Glocke, die in der Bombennacht vom Turm fiel und heute als Mahnmal im Kirchenschiff steht? „Es war anstrengend, es war trotz Ohrenschutz laut, und ich bin froh, dass wir es geschafft haben“, sagt Peter Zypries. In der Martinskirche gab es schon im Gottesdienst Applaus für die Glöckner. Sie hatten ihn verdient.
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