Arzt aus Kassel redet Klartext: Brauchen eine Impfpflicht für alle

Im Kampf gegen Corona mangelt es nicht an Vorschlägen. Doch es herrscht ein Durcheinander. Ein Infektiologen in Kassel fordert eine Impfpflicht für alle.
Kassel – Die Corona-Infektionen in Deutschland und der Region Kassel steigen an, Bund und Länder haben über das weitere Vorgehen beraten. Unabhängig von den Ergebnissen haben wir mit Dr. Andreas Bastian gesprochen. Der Chefarzt der Klinik für Pneumologie und Facharzt für Innere Medizin, Intensivmedizin und Infektiologie am Marienkrankenhaus in Kassel fordert von der Politik ein Umdenken in Sachen Corona-Impfpflicht.
Herr Bastian, sind Sie überrascht von der Vehemenz der vierten Corona-Welle?
Ganz und gar nicht. Es ist das eingetreten, was Virologen längst vorausgesagt hatten.
Haben wir uns womöglich zu sicher gefühlt?
Ich würde eher sagen, dass wir die Zeichen ignoriert haben. Die Zahlen waren wieder auf einem moderaten Niveau, wir wollten das Problem hinter uns lassen, wieder Party machen, und wir wollten uns nicht mehr mit der Pandemie auseinandersetzen. Es hätten viel früher Maßnahmen ergriffen werden müssen. Aber es standen nun mal Wahlen vor der Tür, und du gewinnst keine Stimmen, wenn du verkündest, dass sich alle weiterhin einschränken müssen.
Ein weiteres Problem ist die schleppende Impfkampagne. Andere EU-Staaten sind da wesentlich weiter. Was läuft hier falsch?
Zunächst einmal fehlen aktuell die Kapazitäten, nachdem die Impfzentren geschlossen wurden. Der Impfstoff ist da, aber die Räumlichkeiten nicht. Wenn ich mich endlich durchgerungen hätte zur ersten Impfung und müsste dann in der Kälte vor dem City-Point mehr als eine Stunde warten, da würde ich gleich wieder abdrehen. Erstimpfungs-Kandidaten sollten bevorzugt werden.
Welche Gründe gibt es außerdem für die miese Impfquote?
Wenn Sie zum Vergleich an die südlichen Länder wie Spanien, Portugal und Italien denken, kann ich nur sagen: Da gab es monatelang einen Lockdown, die Menschen dort haben die Toten gesehen, sie haben die Katastrophe hautnah miterlebt. Das motiviert, sich impfen zu lassen. Hierzulande haben viele das Extreme nicht mitbekommen. TV-Bilder aus Intensivstationen sind schön und gut, wenn Ärzte und Pflegekräfte die Zustände beklagen – doch diese Bilder spiegeln nicht ansatzweise wider, wie schlimm es wirklich zugeht und wie sehr Corona-Patienten leiden.
Spielen nicht auch Impfgegner und Corona-Leugner eine Rolle?
Fehlinformationen und Lügen tragen einen Teil dazu bei, dass es mit dem Impfen nicht vorangeht. Problematischer sehe ich die Tatsache, dass wir manche Gruppen nicht erreichen – und wir dürfen es nicht benennen. Doch die täglichen Erfahrungen belegen, dass die Vorbehalte oft mit kulturellen Ansichten zu tun haben und mit Unwissenheit. Diese Gruppen gucken kein deutsches Fernsehen. Wir müssen einen besseren Zugang zu dieser Gruppe finden.
Um der Lage Herr zu werden, wird auch über 2G- und 3G-Regelungen debattiert. Welche Variante bevorzugen Sie?
Zunächst einmal: Wir brauchen eine Impfpflicht für alle. Nach Ansicht von Virologen werden sich früher oder später alle mit Corona infizieren. Solange der Großteil geimpft ist, bedeutet das keine Katastrophe, damit wird die Gesellschaft fertig. Weil die Verläufe wesentlich schwächer sind, werden auch die Krankenhäuser nicht darunter leiden.
Die Politik hat eine Impfpflicht für alle ausgeschlossen.
Da mache ich Jens Spahn und den anderen nicht mal einen Vorwurf. Sie waren davon überzeugt, haben daran geglaubt, dass es auch ohne Pflicht geht. Die aktuelle Entwicklung lehrt uns etwas anderes. Ich wünsche mir ein Umdenken seitens der Politik. Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen sagen: „Okay, ich habe mich geirrt und das Virus unterschätzt.“ Diese Ehrlichkeit und Selbstkritik fehlen.
Aber wie soll diese Pflicht durchgesetzt werden?
Natürlich gibt es politische und juristische Hürden. In den USA beispielsweise werden Arbeitsverbote für Ungeimpfte verhängt. Es muss allen bewusst werden, dass es ohne eine hohe Impfquote nicht funktionieren wird. Auch wenn das Wort Pflicht eher negativ behaftet ist – am Ende des Tages bedeutet die Impfpflicht Freiheit.
Demnach bevorzugen Sie die Variante 2G?
Absolut. Und zwar flächendeckend. Wie gesagt, Durchbrüche wird es immer geben. Aber Geimpfte landen nur sehr selten auf der Intensivstation. Problematisch wird es, wenn das Virus auf Ungeimpfte übertragen wird. Diese Gruppe macht die Patienten aus, die Ungeimpften bringen die Last in die Krankenhäuser.
Sind unter 2G-Regelungen auch Weihnachtsmärkte und Feiern vertretbar?
Solche Veranstaltungen stehen und fallen mit strikten 2G-Kontrollen. Grundsätzlich habe ich nichts dagegen. Die Gefahr ist nur, dass Geimpfte, die sich dabei infizieren, das Virus nach solch einer Veranstaltung an Ungeimpfte weitergeben.
Weihnachtsmärkte werden bereits abgesagt. Ist das Geimpften vermittelbar, die schuldlos wieder Einschränkungen hinnehmen müssen?
Ich glaube, dass den Geimpften gar nichts vermittelt werden muss. Sie haben die prekäre Lage verstanden und akzeptiert. Vielmehr wird der Hass auf die Ungeimpften wachsen, denn jeder weiß: Die sind schuld. Diese vierte Welle wird die Gesellschaft weiter spalten. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Mit einer Impfpflicht kann dem vorgebeugt werden. (Robin Lipke)
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Zur Person
Dr. Andreas Bastian (60) ist Chefarzt der Klinik Pneumologie im Marienkrankenhaus. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie, Infektiologie und Intensivmedizin. Bastian ist in Göttingen geboren und in Braunschweig aufgewachsen. Studiert hat er in Göttingen. Nach beruflichen Stationen in Göttingen, Kiel, Bochum und Lüdenscheid wechselte er 2009 ins Marienkrankenhaus nach Kassel. Bastian ist verheiratet.