Seit Beginn der Pandemie hatten wir uns darauf eingestellt, dass irgendwann Menschen zu uns kommen, die mit der veränderten Lebenssituation zu kämpfen haben. Es hat aber tatsächlich eine ganze Zeit gedauert, bis Patienten mit eben diesen Folgeerkrankungen zu uns gekommen sind. Seit Sommer beobachten wir das zunehmend mehr.
Hat sich die Symptomatik über die zwei Jahre verändert?
Ganz am Anfang hatten wir eher Angstpatienten, die viel Sorge hatten, sich zu infizieren. Diese Menschen sind dann nicht mehr aus dem Haus gegangen, haben sich isoliert, weil sie mit der Gefahr der Ansteckung nicht zurechtgekommen sind. Das geht dann in Richtung Cave-Syndrom, was vereinfacht gesagt die Angst vor der eigentlichen Normalität umschreibt. Diese Erkrankung tritt jetzt ein Stück weit in den Hintergrund.
Inwiefern?
Wir behandeln viele Lehrer, bei denen zeigt sich eine massive Erschöpfung. Ähnlich ist es auch bei Eltern, die ihre Kinder während des Homeschoolings lange zuhause betreuen mussten. Auch da geht es bei vielen mittlerweile Richtung Burnout. Das heißt, die Menschen fühlen sich kraftlos, ausgebrannt und erschöpft. Wer lange Zeit im Homeoffice gearbeitet hat und diese Situation als schwierig empfand, zeigt eher Vereinsamungstendenzen, sozialphobische Symptome oder Depressionen.
Das sind dann auch die Symptome, die Sie im Verlauf der Pandemie erwartet hätten?
Es ist schwierig, sich so etwas vorzustellen. Ich hatte schon die Befürchtung, dass die Veränderung in der Gesellschaft durch die Pandemie etwas bewirken wird. Aber dass man das konkret an bestimmten Dingen festmachen kann, wie der Angst vor der Infektion, der Angst vor Existenzverlust oder der Angst vor Vereinsamung, das habe ich so nicht erwartet. Vor allem nicht, dass es so massiv werden wird.
Was tritt am häufigsten auf?
Momentan sind es tatsächlich die enorme Erschöpfung und Energielosigkeit, dazu eine sehr pessimistische Lebenseinstellung. Die Ängste vor Tod und Ansteckung und damit auch die Sorge um Familienmitglieder, das hat sich durch die Impfungen relativiert. Aber die Lebensgestaltung mit der Kontaktreduzierung und dem ständigen Rückzug, das macht vielen zu schaffen.
Glauben Sie nicht, dass die länger werdenden Tage und das schöne Wetter im Frühling auch die Stimmung heben?
Bei einem Großteil wird das so sein. Aber wer in der Vergangenheit schon mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte und das noch allein in den Griff bekommen hat, für den wird es jetzt deutlich schwieriger.
Ab wann muss ich mir Gedanken machen?
Das ist sehr individuell und ein Stück weit auch von dem Leben abhängig, das man vor der Pandemie geführt hat. Wie aktiv war man vorher? Welche Hobbys hatte man, und inwiefern waren die jetzt über lange Zeit nicht möglich? Man muss das Ganze in Relation zur jetzigen Situation setzen. Wenn der Unterschied gravierend ist, ist das ein Alarmzeichen.
Kann man das an konkreten Punkten festmachen?
Wenn man zu gar nichts Lust hat, wenn schon ein Anruf zu viel wird oder man eine Einladung aus dem Grund der Überforderung ablehnt, fängt es an, dass man sich Gedanken machen sollte. Im Lockdown war vieles nicht möglich. Da hatte man eine Ausrede. Aber jetzt sind beispielsweise die Restaurants geöffnet und man kann sich mit Maske gut schützen. Wenn man dann eben sagt, man kann sich nicht aufraffen, hat kein Interesse an Freunden oder Sport, wird es bedenklich. Ich kann jedem nur empfehlen, der irgendwie merkt, dass mit seiner Stimmung etwas nicht stimmt, dass er sich Hilfe holt. Es muss nicht sofort eine stationäre Behandlung sein. Eine ambulante Beratung kann einigen schon helfen. Das kann die Familienhilfe sein, eine psychotherapeutische Beratung oder ein Gespräch mit dem Hausarzt.
Und wenn ich nur vorsichtig bin und deshalb noch nicht in Restaurants gehe?
Es mag diese vorsichtigen Menschen geben, aber dann kann man vielleicht überlegen, ob man sich zuhause mit ein, zwei Freunden trifft. Das Vorsichtigsein kann aber auch eine Ausrede sein, weil man eben auf gar nichts Lust hat. Aber da sind wir dann eben wieder in diesem Bereich. Was ist noch vertretbar oder was ist schon krankhaft.
Kann man diesem Problem denn vorbeugen?
Man sollte bei sich selbst ein Bewusstsein schaffen, ob es Dinge oder Verhaltensweisen gibt, die nicht dem eigenen Naturell entsprechen. Viele Menschen setzen sich damit gar nicht erst auseinander. Aber wenn ich mit Freunden darüber rede, wie es mir und ihnen geht, ist das ein Punkt in der Prävention. Man sollte nicht dem Rückzug seinen Lauf lassen, sondern offen sagen, dass es einem zum Beispiel schwer fällt, selbst anzurufen und darum bitten, dass sich andere melden. Das ist immer noch ein Tabu. Man redet nicht gern über seine Befindlichkeiten.
Wie behandeln Sie Menschen, die unter dem Cave-Syndrom leiden?
Jemand, der unter dem Cave-Syndrom leidet, wird entsprechende Symptome entwickeln. Das können Depressionen, sozialer Rückzug, Phobien oder Ängste sein. Für diese Menschen ist es trotz Maskenpflicht und Hygieneregeln aber nicht leicht, ihre häusliche Umgebung zu verlassen. Wir geben diesen Menschen die Möglichkeit, vorsichtig mit anderen wieder in Kontakt zu kommen und die Berührungsängste so zu verlieren. In der Gruppentherapie wird zum Beispiel versucht, die Ängste in einen rationalen Zusammenhang zu bringen.
Wie macht sich ein Corona-Burnout bemerkbar?
Diese Menschen beschreiben eine unendliche Müdigkeit, die sich auch nicht mehr mit Sport oder Ähnlichem bekämpfen lässt. Wenn sich dann noch Ängste entwickeln, die ein übersteigertes Maß haben, das nicht der Realität entsprechen würde, ist es Zeit, etwas zu tun. Wenn man nach der Arbeit nur noch schlafend und fernsehschauend auf dem Sofa liegt, sich noch dazu vielleicht schlecht ernährt, dann sollte man etwas ändern. Ein Alarmsignal ist auch, wenn alles, was vorher war, weggebrochen ist und man auch keinen Antrieb hat, das wieder aufzunehmen.
Was kann man dagegen tun?
Wir versuchen, dass die Menschen zurück zu früheren Kräften kommen. Dabei helfen viel Sport und auch Angebote in der Gruppe wie beispielsweise Malerei oder Kochkurse. Ziel ist es, diese Menschen langsam wieder zu aktivieren, ins Leben reinzugehen. Oft hängen die Probleme auch mit dem Berufsalltag zusammen. Da geht es dann darum, neue Perspektiven zu finden.
Was kann man in der aktuellen Situation vorbeugend machen?
Alles, was dazu beiträgt, das private System zu entlasten. Vor allem Reden hilft. Man sollte rausgehen in die Natur, sich dort mit Menschen treffen. Das bisherige Einerlei durchbrechen. Das Wichtigste ist, es überhaupt erst mal anzugehen. Es ist besser, es anzunehmen und etwas zu verändern.
Wie wirkt sich das Kriegsgeschehen in der Ukraine auf Menschen aus, die ohnehin schon durch die Pandemie psychisch zu kämpfen haben?
Diese Menschen werden jetzt noch mal sehr viel mehr, durch ihre psychischen Vorerkrankungen und Trauma- Erfahrungen mit ihren Ängsten, Sorgen und Überforderungen konfrontiert. Der Hoffnung, dass sich durch das Nachlassen der Pandemie wieder etwas in ihrem Leben verbessern könnte, sie also wieder mehr an ihre Ressourcen anknüpfen können, ist durch die aktuelle Realität der Boden entzogen worden. Hoffnungslosigkeit statt Optimismus und Aktivierung von alten Trauma-Erfahrungen und Ängsten statt psychischer Stabilität ist leider die Realität. (Kathrin Meyer)
Seit rund zwei Jahren begleitet die Corona-Pandemie unseren Alltag. Noch vor der Krise waren Männer unglücklicher als Frauen, mittlerweile ist es andersherum.
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