Damals habe er jemanden gesucht, der ihm bei der Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU) helfen könne. Die MPU beurteilt in Deutschland die Fahreignung des Antragstellers. Daraufhin sei ihm ein Mann aus Kassel empfohlen worden, der für ihn „alles erledigen“ könne.
Er habe dem Mann, der wohl als Vermittler zu dem Mitarbeiter der Führerscheinstelle agierte, 7500 Euro gezahlt, ein Passbild gegeben und seine Unterschrift auf einem Blatt hinterlassen. Der Vermittler habe ihm ein Formular der Führerscheinstelle gegeben, das er ausgefüllt und in der Behörde in der Kurt-Schumacher-Straße abgegeben habe. Dort habe er auch die Gebühr bezahlt. Als er aus der Haft entlassen wurde, bekam er seinen „echten Führerschein“.
Ein Polizist sagte aus, dass unter den 112 Kunden auch eine gewisse Anzahl an Flüchtlingen gewesen sei. Die könnten sich in Deutschland nicht einfach ihren Führerschein umschreiben lassen, sondern müssten nach sechs Monaten Aufenthalt eine Prüfung ablegen.
„Das ist wie ein Jackpot gewesen“, sagte der 34-jährige Angeklagte gestern vor dem Kasseler Amtsgericht. Er sprach über das Angebot, einen echten deutschen Führerschein zu bekommen, ohne dafür eine Prüfung abgelegt und eine MPU bestanden zu haben.
Weil er noch nie in seinem Leben eine Führerscheinprüfung gemacht, aber sich dennoch immer wieder hinters Steuer gesetzt hatte, war der Mann, der 2004 von der Ukraine nach Deutschland gekommen ist, schon mehrfach vor deutschen Gerichten verurteilt worden. Unter anderem vor dem Amtsgericht Würzburg, weil er auf der A 7 bei einer Fahrzeugkontrolle einen gefälschten slowakischen Führerschein der Polizei präsentiert hatte. Dieser Schwindel war aufgeflogen. 480 Euro habe er damals für die Fälschung bezahlt.
Für den „echten deutschen Führerschein“ blätterte der Mann nach eigenen Angaben satte 7500 Euro hin. Dieses Geld habe er in der Zeit verdient, die er im Jahr 2018 im offenen Vollzug verbracht habe, gab er gestern auf Nachfrage von Richterin Hahn an. „Sie sind richtig abgezockt worden, im Gegensatz zu den anderen“, sagte die Richterin.
Bislang seien der Staatsanwaltschaft und dem Gericht nur Fälle bekannt gewesen, in denen die Käufer der Führerscheine zwischen 500 und 5000 Euro für das Dokument bezahlen mussten.
Dass er einen „echten Führerschein“ über einen Vermittler bei einem Mitarbeiter der Kasseler Führerscheinstelle gekauft hatte, kam dem Angeklagten in der Vergangenheit bereits zu Gute. Denn er ist mehrfach im Straßenverkehr aufgefallen, ohne dass bemerkt worden war, dass er einen Führerschein gar nicht besitzen darf. So war er zum Beispiel auf dem Weg nach Hann. Münden in einer Geschwindigkeitskontrolle mit 26 km/h auf dem Tacho zu viel erwischt worden. Daraufhin musste er im Sommer 2019 nur ein Aufbauseminar machen. Im Februar 2019 war er in einen Unfall auf der A 7 verwickelt. Auch damals flog der gekaufte Führerschein nicht auf.
Erst als er im August 2021 wegen seiner „unsicheren Fahrweise“ erneut aufgefallen war, sei der Führerschein des Mannes von der Polizei beschlagnahmt worden, sagte ein Polizeibeamter aus. Die ganze Führerschein-Angelegenheit sei in der Führerscheinstelle durch Anfragen von der Polizei aufgeflogen, sagte eine Mitarbeiterin der Behörde aus. Eine Vorgängerin von ihr sei auf die Unregelmäßigkeiten gestoßen.
Im September 2020 sei zunächst die Rede von sieben Fällen gewesen, später wurden noch weitere 105 Fälle entdeckt. Alle 112 Fälle seien von ein und demselben Mitarbeiter der Führerscheinstelle bearbeitet worden, so die Zeugin. Um einen Führerschein zu beantragen, habe man damals (heute geht das auch online) persönlich bei der Führerscheinstelle vorsprechen müssen. Dort müsse man die Gebühr zahlen sowie ein Passbild, eine Bescheinigung über einen Sehtest und einen Erste-Hilfe-Kurs vorlegen. Nach diesem Prozedere gebe die Führerscheinstelle einen Auftrag an die Bundesdruckerei zur Herstellung des Führerscheins. Ist dieser gedruckt, werde er an die Führerscheinstelle geschickt. Kurz vor dem Prüfungstermin werde der Führerschein an den TÜV weitergegeben, wo die Prüfung abgelegt werden muss. Dort bekommen die Prüflinge auch ihre Führerscheine, sofern sie Theorie und Praxis bestanden haben.
Der Angeklagte hatte seinen gekauften Führerschein hingegen von dem Vermittler bekommen, nachdem er aus dem offenen Vollzug entlassen worden war.
Er wurde gestern wegen Bestechung und Fahren ohne Fahrerlaubnis nicht nur zu einer eineinhalbjährigen Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt worden ist, und 2500 Euro Geldstrafe verurteilt. Er darf in den nächsten zwei Jahren auch keinen Führerschein beantragen. Die Richterin gab dem Mann mit auf dem Weg, dass er in dieser Zeit Geld für die MPU und die Fahrschule sparen soll. Darüber hinaus könne er froh sein, dass er am Steuer zum Glück nur Blechschäden verursacht habe.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem ehemaligen Mitarbeiter der Führerscheinstelle (24) gewerbsmäßige Bestechlichkeit in Tateinheit mit Falschbeurkundung im Amt vor. Im Juli 2022 war gegen ihn Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben worden. Das Amtsgericht hat allerdings beantragt, das Verfahren an die Jugendkammer des Landgerichts zu verlegen. Eine Entscheidung über die Übernahme des Verfahrens sowie Eröffnung des Hauptverfahrens ist bislang nicht getroffen. (Ulrike Pflüger-Scherb)
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