„Das kommt mir total bekannt vor“: Hannelore Limmeroth (91) erinnert sich an den Kriegsbeginn 1939

Die 91-jährige Hannelore Limmeroth erinnert sich an den Kriegsbeginn im Jahr 1939.
Kassel – Es ist schon ein paar Tage her, aber die 91-jährige Hannelore Limmeroth ist immer noch aufgebracht. Darüber, dass es angeblich einen ukrainischen Drohnenangriff gab. Und zwar auf den russischen Regierungssitz im Kreml. Das war in allen Nachrichten Thema, gleichzeitig wurden massive Zweifel am Wahrheitsgehalt geäußert.
„Mir kommt das alles total bekannt vor“, sagt die Frau, die ihre Kindheit im damaligen Ostpreußen (heute Polen) in der Nähe der Grenze verbracht hat. In Dreifelde, einem kleinen Ort nicht weit von Johannisberg, dem heutigen Pisz. Sieben Jahre war sie damals alt, als im Dorf zunehmende Unruhe zu spüren war.
Man müsse angeblich stündlich damit rechnen, dass es Angriffe von polnischer Seite geben könne. Im Spätsommer 1939 war das. „Vieles, was damals geschah, habe ich erst später verstanden“, sagt Hannelore Limmeroth.

Das Nachbardorf, das noch näher an der Grenze lag, sei nahezu komplett evakuiert worden. „Bei uns gab es eine Molkerei, in der der Betrieb weiterging“, erinnert sie sich. Auch Schwerkranke seien nicht abtransportiert worden, darunter die Mutter ihrer Patentante, bei der sie damals wohnte.
Nach und nach habe sich herausgestellt, dass die angebliche polnische Bedrohung nur Propaganda der Nationalsozialisten war. Die Nachbarn, die vermeintlich wegen der drohenden Gefahr evakuiert wurden, seien nur ein paar Kilometer weg von ihren Wohnorten gebracht worden.
Am 1. September begann mit dem deutschen Überfall auf Polen dann der Zweite Weltkrieg. Ein Vorwand war ein angeblicher Überfall auf den Sender Gleiwitz nahe der polnischen Grenze. „Das hat mich total an den angeblichen Drohnenangriff erinnert“, sagt Hannelore Limmeroth. Sie sehe da ganz ähnliche Täuschungsabsichten wie damals.
Als Kind nahm sie lediglich zur Kenntnis, dass um sie herum seltsame Dinge passierten. Dass für eine kurze Zeit sehr viele Wehrmachtssoldaten durch ihr Dorf unterwegs waren. Vom Krieg selbst bekam sie zunächst kaum etwas mit. Das änderte sich erst 1944 schlagartig. „Da gab es plötzlich Versammlungen von Frauen, Kindern, alten Männern und der örtlichen NS-Leitung. Es ging darum, die Flucht Richtung Westen vorzubereiten. Das lief dann aber doch ziemlich überstürzt.

„Als es für uns losgehen sollte, war von den führenden Nazis keiner mehr da, die haben sich abgesetzt und uns im Stich gelassen“, sagt Hannelore Limmeroth.
Als Zwölfjährige überlebte sie eine von vielen Zufällen geprägte chaotische Flucht. Als die Rote Armee fast schon in Sichtweite war, sei ihre ganze Schulklasse in einen kleinen Ort in der Nähe von Dresden gebracht worden. Völlig überstürzt und ohne die Angehörigen zu informieren. „Erstaunlicherweise kam damals zumindest ab und zu noch Post an“, sagt sie.
So gelang ihr die Kontaktaufnahme mit ihrer 16-jährigen Schwester, die kurz vor Kriegsende als Luftwaffenhelferin eingezogen worden war. Die Schwester wurde nach Munster in der Lüneburger Heide verlegt. Wie sie es geschafft hat, die Genehmigung dafür zu bekommen, die zwölfjährige Hannelore mitzunehmen? Darüber habe sie nie gesprochen.
Jedenfalls sind die beiden nach Kriegsende Richtung Kassel aufgebrochen. Zu einem Onkel, der bei einer Flakstellung auf der Hasenhecke (Wolfsanger) als Sanitäter im Einsatz war. Die Schwestern wussten nicht, dass der Onkel kurz vor Kriegsende ums Leben gekommen war. Seine Witwe, die die beiden nie zuvor gesehen hatte, kümmerte sich dann trotzdem um die Mädchen.
„Das werde ich nie vergessen und ist heute ein Grund dafür, dass ich mich in der Flüchtlingshilfe engagiere“, sagt die rüstige Seniorin. Die Witwe, die ihre beiden Kinder überlebt hat, ist seit gut sieben Jahrzehnten SPD-Mitglied und politisch interessiert. Auch deshalb hat sie sich gemeldet. „Damals wurden wir für dumm verkauft, heute kann man sich doch informieren“, sagt sie.