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Bundesverfassungsrichter a.D. Papier: documenta 15 war „rechtlich nicht zu beanstanden“

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Von: Mark-Christian von Busse

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Nach dem Vortrag wurde engagiert weiter diskutiert: Bei der Juristischen Gesellschaft trafen sich Staatsrechtler Hans-Jürgen Papier (von links), Hans Eichel – einst als Oberbürgermeister auch documenta-Aufsichtsratsvorsitzender – sowie Hans Gädeke und Hans Brinckmann, früher Kanzler und Präsident der Universität Kassel.
Nach dem Vortrag wurde engagiert weiter diskutiert: Bei der Juristischen Gesellschaft trafen sich Staatsrechtler Hans-Jürgen Papier (von links), Hans Eichel – einst als Oberbürgermeister auch documenta-Aufsichtsratsvorsitzender – sowie Hans Gädeke und Hans Brinckmann, früher Kanzler und Präsident der Universität Kassel. © Mark-Christian von Busse

Bei der Juristischen Gesellschaft referierte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier über die Kunstfreiheit und ihre Grenzen. Der Anlass: die documenta fifteen.

Hans-Jürgen Papier begann seinen Vortrag am Dienstag bei der Juristischen Gesellschaft zu Kassel mit einem Zitat. Der Berliner Rechtsanwalt Peter Raue – langjähriger Vorsitzender des Vereins der Freunde der Nationalgalerie in Berlin – hatte in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben, das bei der documenta fifteen auf dem Friedrichsplatz gezeigte Taring-Padi-Banner habe in Gänze und ohne Zweifel den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt: Keine Sekunde hätte „People’s Justice“ gezeigt werden dürfen.

Dann entfaltete Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in der EAM-Konferenzzone in der präzisen juristischen Analyse, die er anfangs versprochen hatte, warum Raue sich geirrt habe. Rechtlich sei das Taring-Padi-Banner trotz seiner antisemitischen Motive nicht zu beanstanden gewesen. Auch sei eine Äußerung wie die der Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth, dass die Kunstfreiheit ihre Grenzen im Antisemitismus finde, aus rechtlicher Sicht nicht haltbar.

Wie kommt Papier zu dieser Einschätzung, die er selbst „ernüchternd“ nannte?

Der – im Grundgesetz-Wortlaut uneingeschränkte – Schutz der Kunstfreiheit dürfe nicht hinter der Garantie der Meinungsfreiheit zurückbleiben, so Papier. Und die habe das höchste Gericht sehr weit ausgelegt. „Was für die Meinungsfreiheit gilt, muss selbstredend – man kann auch sagen: erst recht – für die Kunstfreiheit gelten. Da steht das Recht aufseiten der Kunstschaffenden.“

Auch das Diskriminierungsverbot des Staates hätte, so Papier, keinen rechtsstaatswidrigen Eingriff in die Freiheit der Künstler und Kuratoren gerechtfertigt.

Verkürzt gesagt, darf der freiheitlich-demokratische Staat auch gegenüber seinen Feinden nicht seine rechtsstaatlichen Prinzipien aufgeben: „Wir können ja nicht den Ast absägen, auf dem wir sitzen.“

Mit der Kunstfreiheit selbst habe sich das Bundesverfassungsgericht nur zweimal sehr grundsätzlich befasst, erläuterte Papier: in der „Mephisto“-Entscheidung 1971 und im Urteil über Maxim Billers Roman „Esra“ 2007, an dem er selbst mitgewirkt hat. Letzteres käme für die Beurteilung der d15 nicht in Betracht – dort ging es um den Persönlichkeitsschutz von Billers im Buch wiedererkennbarer, ehemaligen Partnerin. Der Autor hatte Details aus dem Intimbereich der Sexualität, dem „absoluten Kernbereich privater Lebensumstände“, ausgebreitet.

Gibt es nun also gar keine Schranken für die Kunstfreiheit? Doch, „es gibt keine Freiheitsverbürgungen ohne Grenzen“, führte Papier aus. sie liegen wie bei der Meinungsfreiheit zuallererst im Schutz der Menschenwürde als oberstem verfassungsrechtlichen Prinzip, im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (wie eben bei der „Esra“-Entscheidung) und im Schutz des öffentlichen Friedens.

Papier ging in diesem Zusammenhang auf die „Wunsiedel-Entscheidung“ des Gerichts zu jährlichen Aufmärschen von Neonazis in der fränkischen Stadt anlässlich des Todestags von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß ein. Verboten sei bei Demonstrationen von Rechtsextremisten alles, was einschüchternde und enthemmende Wirkung haben könne – wie Trommeln, Fackeln und Uniformen.

Das Taring-Padi-Banner sei aber nicht geeignet gewesen, eine solche aufstachelnde „rechtsgutverletzende oder rechtsgutgefährdende“ Wirkung zu entfalten, etwa den öffentlichen Frieden zu bedrohen. Als „rein geistige Auseinandersetzung“ wäre also das Banner von der Kunstfreiheit geschützt, „auch wenn uns das nicht gefallen mag“. Ein „Kunstrichtertum“ oder Zensur durch die öffentliche Hand kämen nicht in Betracht.

Von der rechtlichen Bewertung trennte Hans-Jürgen Papier die politische Einschätzung: Der „Vorwurf des Versagens“ treffe Stadt Kassel und Land Hessen als Gesellschafter der documenta gGmbH für die Auswahl von Ruangrupa.

Die Träger der Ausstellung könnten sich nicht selbst auf die Kunstfreiheit berufen, die sie den Kuratoren übertragen. Es gebe ein „Auswahlermessen“ sowie eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Berufung der künstlerischen Leitung, auch bei der „präventiven Prüfung des kuratorischen Konzepts“. Dem seien die Träger nicht hinreichend nachgekommen. Er sei in der Kunst Laie, sagte Papier, aber diese Prüfung sei ratsam gewesen, da die Auseinandersetzungen um Antisemitismus abzusehen waren. „Mehr Sorgfalt bei der Auswahl“, so sein Rat.

Generell könne die d15 Anlass sein, über das Verhältnis von Staat und Kultur grundsätzlich nachzudenken. Die staatlich finanzierte Kultur finde weitgehend im rechtsfreien Raum statt, die Kunstfreiheit sei weniger geregelt als Rundfunk- oder Wissenschaftsfreiheit: „Hier muss der Staat nachbessern.“ Bei staatlich finanzierter künstlerischer Betätigung sei die „Flucht in ein undurchsichtiges Geflecht privatrechtlicher Vereinbarungen und Verträge“ keine Lösung. Es brauche ein gewisses Reglement, um die Staatsunabhängigkeit der Kunst zu gewährleisten.

Die folgende Debatte moderierte Jürgen Spalckhaver, Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft. Hans Brinckmann, als Uni-Präsident dreimal an der Auswahl beteiligt, nannte es ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich die Politik nicht in die Berufung der documenta-Leiter einmischt: „Sie haben an diesem Lebensprinzip der documenta ganz erheblich gerüttelt.“

Hans Eichel, der als Oberbürgermeister den Vorsitz im documenta-Aufsichtsrat innehatte, bezeichnete die Ausstellung als „Forum der globalen Kunstgemeinde“. Diese Bedeutung komme in den hochkarätig international besetzten Findungskommissionen zum Ausdruck. Auf Einschränkungen staatlicherseits müsse zwingend verzichtet werden: „Es gibt keine documenta ohne Wagnis.“

Sven Schoeller, mit hoher Wahrscheinlichkeit als neuer Oberbürgermeister nächster Aufsichtsratsvorsitzender, unterstrich die Trennschärfe von Kunstfreiheit – mit Zumutungen und bisweilen Unerträglichkeiten – und politischer Verantwortung. Die liege bei den Trägern. Im Konfliktfall will er auf die Kommunikation zwischen den Gremien der gGmbH und den Kuratoren sowie auf gegebenenfalls erforderliche Kontextualisierungen setzen.

Nächster Vortrag: 26. April: Andreas Paulus, Bundesverfassungsrichter a. D., über Putins Angriffskrieg in der Ukraine und das Völkerrecht. Anmeldung erbeten. Weitere Informationen: juristische-gesellschaft-zu-kassel.de

Zur Person

Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier (79) war ab 1998 Vorsitzender des Ersten Senats und von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Von der Universität Bielefeld wechselte der gebürtige Berliner 1992 auf eine Professur für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist CSU-Mitglied. 

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