Die Träger der Ausstellung könnten sich nicht selbst auf die Kunstfreiheit berufen, die sie den Kuratoren übertragen. Es gebe ein „Auswahlermessen“ sowie eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Berufung der künstlerischen Leitung, auch bei der „präventiven Prüfung des kuratorischen Konzepts“. Dem seien die Träger nicht hinreichend nachgekommen. Er sei in der Kunst Laie, sagte Papier, aber diese Prüfung sei ratsam gewesen, da die Auseinandersetzungen um Antisemitismus abzusehen waren. „Mehr Sorgfalt bei der Auswahl“, so sein Rat.
Generell könne die d15 Anlass sein, über das Verhältnis von Staat und Kultur grundsätzlich nachzudenken. Die staatlich finanzierte Kultur finde weitgehend im rechtsfreien Raum statt, die Kunstfreiheit sei weniger geregelt als Rundfunk- oder Wissenschaftsfreiheit: „Hier muss der Staat nachbessern.“ Bei staatlich finanzierter künstlerischer Betätigung sei die „Flucht in ein undurchsichtiges Geflecht privatrechtlicher Vereinbarungen und Verträge“ keine Lösung. Es brauche ein gewisses Reglement, um die Staatsunabhängigkeit der Kunst zu gewährleisten.
Die folgende Debatte moderierte Jürgen Spalckhaver, Vorsitzender der Juristischen Gesellschaft. Hans Brinckmann, als Uni-Präsident dreimal an der Auswahl beteiligt, nannte es ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich die Politik nicht in die Berufung der documenta-Leiter einmischt: „Sie haben an diesem Lebensprinzip der documenta ganz erheblich gerüttelt.“
Hans Eichel, der als Oberbürgermeister den Vorsitz im documenta-Aufsichtsrat innehatte, bezeichnete die Ausstellung als „Forum der globalen Kunstgemeinde“. Diese Bedeutung komme in den hochkarätig international besetzten Findungskommissionen zum Ausdruck. Auf Einschränkungen staatlicherseits müsse zwingend verzichtet werden: „Es gibt keine documenta ohne Wagnis.“
Sven Schoeller, mit hoher Wahrscheinlichkeit als neuer Oberbürgermeister nächster Aufsichtsratsvorsitzender, unterstrich die Trennschärfe von Kunstfreiheit – mit Zumutungen und bisweilen Unerträglichkeiten – und politischer Verantwortung. Die liege bei den Trägern. Im Konfliktfall will er auf die Kommunikation zwischen den Gremien der gGmbH und den Kuratoren sowie auf gegebenenfalls erforderliche Kontextualisierungen setzen.
Nächster Vortrag: 26. April: Andreas Paulus, Bundesverfassungsrichter a. D., über Putins Angriffskrieg in der Ukraine und das Völkerrecht. Anmeldung erbeten. Weitere Informationen: juristische-gesellschaft-zu-kassel.de
Zur Person
Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier (79) war ab 1998 Vorsitzender des Ersten Senats und von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Von der Universität Bielefeld wechselte der gebürtige Berliner 1992 auf eine Professur für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist CSU-Mitglied.