Der große Ausbruch: Kasseler Kunststudenten fuhren 1970 von Kassel nach Indien

Vor gut 50 Jahren brachen drei Kasseler Studenten der damaligen Hochschule für bildende Künste (HfBK) mit einem VW Bulli von Kassel nach Indien auf. Anlässlich einer Foto-Ausstellung erinnern sie sich.
Kassel – Für Dirk Streitenfeld war es eine Zeit des Aufbruchs und Ausbruchs. Wenn sich der heute 77-Jährige an seine Kasseler Studienjahre zwischen 1967 und 1972 erinnert, klingt die Euphorie von damals nach. „Es schien uns alles möglich zu sein“, sagt der Grafik-Designer und Maler, der inzwischen in Oberursel wohnt. Höhepunkt dieser Zeit war eine viereinhalb Monate dauernde und 45 000 Kilometer lange Reise mit einem VW Bulli von Kassel nach Kalkutta und zurück.
Auf diesem Roadtrip entstanden 5000 Fotos, die aktuell in einer Ausstellung im Deutschen Werkbund in Frankfurt zu sehen sind. Streitenfeld will sich bemühen, die Schau bald an der Uni Kassel zu zeigen – zu der die heutige Kunsthochschule und frühere Hochschule für Bildende Künste (HfBK) gehört.
Heutige Studierende würden jedenfalls ein ganz anderes Studienleben vor Augen geführt bekommen. Streitenfeld entstammt einem bürgerlichen Elternhaus. Geboren in Eisenach, wuchs er in Bad Hersfeld auf. „Kassel war als Kind für mich die unerreichbar ferne Riesenstadt.“ Auf Drängen seines Vaters meldete er sich freiwillig zur Bundeswehr. Nach zehn Monaten bei den Pionieren in Hann. Münden verweigerte er. „Ich war der Bundeswehr mit all ihren schrägen Regeln entronnen.“ Eine Befreiung.
1967 begann er sein Grafik-Design-Studium in Kassel. Schon in der Schule hatte er Zeichnungen und Illustrationen für Zeitungen gefertigt. „Da ging mein Herz auf. Es war ein ganz anderes Leben. Ein Leben, bestimmt von Kultur.“ Bei der 4. documenta arbeitete er als Aufsicht. Und gerne erinnert er sich an bewusstseinserweiternde Filmabende. Darunter ein Experimentalfilm von Andy Warhol. „Es wurde ein schlafender Mensch gezeigt. Wir saßen stundenlang davor und hatte das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein.“

Für Streitenfeld und seine Mitstudenten schien alles möglich. „Ein Kommilitone wollte John Lennon schreiben und ihn bitten, eine Lehrveranstaltung in Kassel zu halten, weil Lennon auch Grafik studiert hatte.“ Es blieb bei der Idee, die lange hin und her diskutiert wurde.
Trotz großer Freiheit im Studium und vieler Mitspracherechte der Studenten erlebte er den Alltag in Kassel damals als trostlos. Streitenfeld lebte in einer Wohngemeinschaft in einem Abrisshaus in der Nähe der Ingenieurschule an der Wilhelmshöher Allee. Einen Mietvertrag gab es nicht. „Wir wohnten zu viert und wurden als Kommune beäugt. Ich fand das grotesk. Die Nachbarschaft glaubte, bei uns würde es drunter und drüber gehen. Drogen und Sex. Das war ehrenvoll, aber wir waren blutige Anfänger und hatten keine Ahnung.“
Auch das Kasseler Nachtleben war überschaubar. Im Lohmanns im Königstor trafen sich die Studenten. Ansonsten trieb sich Streitenfeld regelmäßig im „International“ am Druselturm und im „Club Atlantic“ in der Wilhelmsstraße herum. Beide Clubs waren Treffpunkte der in Kassel stationierten GIs. „Da gab es Tänzer, die Soul tanzten, dass uns die Augen wund waren. In beiden Läden waren viele Frauen, die anschafften. Es war eine Welt, die sehr eindrücklich war.“
Und dennoch reichte diese Welt Streitenfeld nicht. Kassel wirkte lähmend. Also schmiedete er mit seinen Mitstudenten Erika Mignon-Jobel und Juchan Reinard den Reiseplan nach Indien. Seine damalige Freundin und heutige Frau, die er beim Studium kennengelernt hatte, musste in Kassel bleiben. „Sie hatte keinen Führerschein. Wir hatten die Regel, dass nur mitfahren darf, wer fahren kann. Das stellte unsere Beziehung auf eine Probe. Sie war stinksauer.“ Aber immerhin galt es, 45 000 Kilometer zu überwinden.

Ein VW Bulli wurde aufgerüstet. Streitenfeld schweißte das Schiebedach einer Mercedes-Limousine ins Dach, um von der erhöhten Position fotografieren zu können. Denn: „Wir waren auf der Suche nach Bildern und uns selbst.“ Gesucht wurden nicht Bilder der Armut, sondern Bilder eines bescheideneren, vermeintlich besseren Lebens. Nicht nur das Gepäck, sondern auch Ersatzmotor und Ersatzreifen mussten Platz finden. Im Juli 1970 ging es los.
Durch Südeuropa, die Türkei, den Iran, Afghanistan und Pakistan führte die Route nach Indien. In der Türkei und im Iran durchsuchten Zöllner den Bus nach Haschisch. Als die Türken nichts fanden, wurde gemeinsam Raki getrunken. Geschlafen wurde fast immer im Bus. Nur gelegentlich in einem billigen Hotel. Abgesehen von ein paar Geldbetrügereien, wurden die Deutschen überall herzlich aufgenommen. 25 Jahre nach dem Krieg für sie eine unerwartete Erfahrung. Gewalt erlebten sie nirgendwo.
In Pakistan wurde der Ersatzmotor verscherbelt, um die Reisekasse aufzubessern. Denn das Trio hatte nur etwa 1000 DM mitgenommen. Vor allem die Erlebnisse in Afghanistan schätzt Streitenfeld bis heute. „Wir waren in einer Zeit dort, in der gerade mal kein Krieg herrschte. Wir konnten uns frei bewegen.“

Unruhig wurde es in Indien, als die Deutschen in einen Streik von Eisenbahnern gerieten, die sie für Engländer hielten. Der Frust auf die ehemaligen Kolonialherren war groß. Schließlich konnten sie den Streikführer von ihrer Herkunft überzeugen – der sogleich begeistert über Deutschland sprach.
Als die drei Studenten voller Eindrücke und mit 5000 Fotos im Gepäck nach Kassel zurückkehrten, standen sie im Mittelpunkt. „Wir hatten an Attraktivität gewonnen.“ Auch die Beziehung sollte halten. Nach dem Examen zog Streitenfeld 1972 nach Frankfurt. „Als Grafik-Designer im Kultur- und Sozialbereich war in Kassel nichts zu holen.“ Er erinnert sich aber gern zurück: An den großen Ausbruch und Aufbruch. (Bastian Ludwig)