Revolutionär mit der Axt: Buch würdigt Manager von Ton Steine Scherben

Nikel Pallat war Manager der Rockband Ton Steine Scherben. In Erinnerung geblieben ist er auch wegen eines TV-Auftritts. Der Kasseler Christof Dörr hat nun ein Buch mit ihm geschrieben.
Kassel – Am 3. Dezember 1971 schreibt der Mann, dessen Name heute nur Experten kennen, deutsche Fernsehgeschichte. In der WDR-Talkshow „Ende offen“ diskutiert Nikel Pallat, der Manager der Rockband Ton Steine Scherben, mit anderen Gästen über die Frage, wie kommerziell Popmusik sein darf. Als ihm die Argumente ausgehen, holt er eine Axt heraus und zertrümmert den Tisch, von dem die anderen erschreckt aufstehen. Besser als mit diesem Auftritt hätte man einen der größten Hits von Ton Steine Scherben nicht symbolisieren können: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“
Die legendäre Szene gibt es heute auf Youtube, aber über Nikel Pallat findet man nicht mal einen Eintrag bei Wikipedia. Dabei war er wegweisend für den deutschen Musikbetrieb. Der Kasseler Journalist Christof Dörr hat ihn interviewt und mit ihm das lesenswerte Buch „Das schillernde Leben des Nikel Pallat“ herausgebracht.
Der Redakteur des Hessischen Rundfunks hat ein Gespür für ungewöhnliche Geschichten. Mit Frank Klubescheidt von den Bates erzählte er die Geschichte der Eschweger Punkband The Bates. Und mit Sergej Evljuskin veröffentliche er ein packendes Sportbuch, das erklärte, wieso der einstmals beste deutsche Nachwuchsfußballer nicht Weltmeister wurde, sondern am Ende glücklich beim KSV Hessen Kassel in der vierten Liga kickte.
In „Das schillernde Leben des Nikel Pallat“ geht es wieder um den Musikbetrieb, aber auch um die Frage, was aus den Träumen und Zielen von einst geworden ist. Für Dörr sind Ton Steine Scherben die einflussreichste deutsche Rockband. Der 50-Jährige ist selbst kein Fan, aber irgendwie mit der Musik auch aufgewachsen. Er erinnert sich noch an die Songzeilen, die während seiner Studienzeit in Marburg an die Häuserwände gesprüht waren – als die Band längst aufgelöst und Sänger Rio Reiser schon tot war.
Dörr interessierte vor allem das Verhältnis zur RAF, in deren Nähe die Musiker immer wieder gerückt wurden: „Sie haben keine Molotowcocktails geworfen, aber die Parolen geschrieben, die auf den Demonstrationen skandiert wurden.“ Pallat schrieb den Scherben-Song „Paul Panzers Blues“, in dem es heißt: „Mit ’ner Knarre in der Hand da träum’ ich, ich knall’ alle Schweine ab, denn uns, uns gehört das Land.“ Heute sagt Pallat, dass die Zeile nicht so gemeint war. Er habe sagen wollen, dass man sich auflehnen soll. Rückblickend findet er den Gewaltaufruf immerhin falsch.
Zur Band stieß Pallat 1970, weil er sich mit Geld auskannte. In Göttingen hatte er eine Ausbildung zum Finanzbeamten gemacht (und war zwischenzeitlich immer wieder in Kassel, wo es eine lebendige Beat-Szene mit vielen Bands gab). Neben Rio Reiser war er der einzige Sänger von Ton Steine Scherben. Vor allem aber war er bis 1978 der Manager der Band. Erst danach folgte die heutige Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Wie auch viele Musiker hat die Grünen-Politikerin ein Kapitel zum Buch beigesteuert. Sie schreibt, Pallat sei „ein Macher, der sich und seinen Werten immer treu geblieben ist“.
Ton Steine Scherben unterschrieben keinen Vertrag bei einer großen Plattenfirma, sondern vertrieben ihre Musik selbst. Damit nahmen sie die Do-it-Yourself-Kultur vorweg, die Punkbands erst Ende der Siebzigerjahre etablierten.
1993 gründete Pallat in Hamburg den Vertrieb Indigo, der zahlreiche Independent-Bands und -Künstler förderte. Seine Firma brachte Grunge-Bands wie Nirvana nach Europa. Sie vertrieb Hip-Hop-Bands wie Fettes Brot und den späteren Superstar Adele. Heute ist Pallat 78 und fährt immer noch regelmäßig von seinem Wohnort Bremen ins Büro nach Hamburg, um zu arbeiten.
Einen TV-Auftritt mit der Axt kann man sich im hysterischen Social-Media-Zeitalter von heute nur noch schwer vorstellen. Der Shitstorm wäre riesig. Damals erfuhren Pallats Berliner Freunde vom Auftritt in der Live-Show erst durch einen Bericht in der „Bild“-Zeitung. Den WDR konnte man in der geteilten Stadt nicht empfangen.
Pallat würde noch einmal zuschlagen, sagt er. Damals wunderte er sich nur, warum er den Tisch nicht richtig kaputt bekam. Und er war überrascht, dass die anderen nicht weiter mit ihm diskutieren wollten, nachdem er sich wieder hingesetzt hatte. (Matthias Lohr)
Das Buch: Nikel Pallat mit Christof Dörr: Das schillernde Leben des Nikel Pallat - Von Ton Steine Scherben bis Adele. Hannibal-Verlag, 240 S., 20 Euro.