Kasseler Mieter warten auf Sanierung

Für Gisela Schlöffel und Wilhelm Diehl ist es die schönste Gegend Kassels: die Brückenhofsiedlung. Sie sind die letzten noch lebenden Nachbarn, die als erstes in die neu gebauten Wohnblocks an der Carlo-Mierendorff-Straße eingezogen sind. Das war im Juni 1966.
Oberzwehren – Warum die Siedlung einen schlechten Ruf hat, können die beiden Senioren nicht verstehen. „Hier hat man doch alles, was man braucht: Ärzte, Apotheke, Supermarkt, Hallenbad, Bus und Straßenbahn – alles ist vor der Tür“, sagt Wilhelm Diehl.
Früher gab es sogar eine Einkaufspassage an der Heinrich-Plett-Straße, mit Textilgeschäft, Schuhladen, Bank, Reinigung, Friseur und Gaststätte Zum Brückenhof an der Oberen Bornwiesenstraße, wo heute der Neukauf ist. Vor 56 Jahren war es für Diehl und Schlöffel ein Traum, in die Brückenhofsiedlung zu ziehen. „Die Wohnungen waren das Modernste vom Modernen“, sagt Gisela Schlöffel und lobt die Zimmeraufteilung in den vierstöckigen Wohnblöcken: „Bad und Toilette waren getrennt, das war hochmodern.“ Außerdem gab es Zentralheizung und fließend warmes Wasser. „Als Normalbürger kannte man sowas nicht.“

Sie hatte vor ihrem Einzug in die Vier-Zimmer-Wohnung mit ihrem Mann und den drei kleinen Töchtern in einer kleinen Wohnung am Philosophenweg gewohnt – ohne Bad. Die Kinder musste sie in einer kleinen Waschwanne baden, sie ging rüber zur Schwägerin, die ein Badezimmer hatte. Auf ihrem Mietvertrag von 1966 für ihre Traumwohnung steht noch die Anrede „Herr/Frau/Fräulein“, das Papier ist längst verblichen. 299,05 D-Mark Miete inklusive Heizkosten mussten für die knapp 87 Quadratmeter Wohnung damals bezahlt werden. Heute zahlt Gisela Schlöffel rund 500 Euro Kaltmiete, plus Heizung. Die Eigentümer haben oft gewechselt; mittlerweile gehört der Wohnblock dem Immobilienkonzern Vonovia.
Schlöffel und Diehl können sich noch gut an die Zeiten erinnern, als zwei Hausmeister für die 232 Wohnungen in zehn Häusern zuständig waren. Beide Hausmeister wohnten in der Nachbarschaft. Einmal kurz rübergehen, klingeln, und das Problem wurde schnell behoben. „Wenn Sie heute ein Problem haben und bei der Wohnungsgesellschaft anrufen, hängen Sie eine halbe Stunde in der Warteschleife“, sagt Gisela Schlöffel. Ihr Nachbar Diehl, der seine Wetterau-Heimat auf der Zunge trägt, sagt: „Anrufen? Das ist kappes.“ Er nutzt die Handy-App von Vonovia, „das klappt super“.
Größere Sanierungen habe es seit seinem Einzug nicht gegeben, sagt Diehl. Nur ein Mal sei die Haustür gestrichen worden. Dabei hätte es der Wohnblock dringend nötig, „vom Keller bis unters Dach, denn überall pfeift es durch“. Etliche Wohnblöcke in der Brückenhofsiedlung seien bereits saniert worden. „Warum man bei uns die Substanz einfach kaputt gehen lässt, geht mir nicht in den Kopf.“
Die beiden sind seit 56 Jahren Nachbarn – er wohnt in der Hausnummer 48, sie in der 52 – und sind noch per Sie. Er ist verwitwet, ihr Ehemann lebt mittlerweile im Altersheim. Wenn sich Frau Schlöffel und Herr Diehl treffen, vorm Haus oder im Eiscafé an der Heinrich-Plett-Straße, dann erinnern sich gerne an die ersten Jahre in der Brückenhofsiedlung, als es viele gute Kontakte in der Nachbarschaft gab. „Erinnern Sie sich noch an die Frau Müller, die nachts immer Bratkartoffeln gemacht hat“, heißt es dann. „Ach, lebt die noch?“ Oder es geht um den Nachbarn, „der einen kleinen Schatten gehabt hat“ oder um die vielen Silvesterfeiern der Hausgemeinschaft im Trockenraum und die Faschingspartys für die Kinder im Keller. Damals konnte sich noch einer auf den anderen verlassen.
Auch wenn damals die Hausgemeinschaft schöner und verlässlicher gewesen sei, leben die beiden gerne im Brückenhof. Frau Schlöffel und Herr Diehl wollen „bis zum Schluss“ im Brückenhof wohnen bleiben. „Der Brückenhof hält jung“, sagt der 78-Jährige. Seine Nachbarin ist 88.
Das Quartier „Brückenhof“ mit 280 Wohnungen ist seit 2019 Eigentum des Immobilienkonzerns Vonovia mit Sitz in Bochum. Die Bestände würden bedarfsgerecht saniert, teilt Unternehmenssprecher Christoph Schwarz mit. „Zum Thema Sanierung dieses Quartiers gibt es bisher keine Entscheidung.“ Aktuell würden Wohnungen in Kirchditmold, Niederzwehren und Waldau saniert. Dem Unternehmen gehören über 565 000 Wohnungen in Deutschland, Österreich und Schweden. (Claudia Feser)