„Nicht nur Idylle, sondern auch Stress“ – So lebt es sich an Kassels schönstem Ort
Der Kunsthistoriker Harald Kimpel wohnt seit 42 Jahren in der Orangerie in Kassel. Im Interview verrät er, warum die Lage direkt an der Karlsaue nicht nur Vorteile hat.
Kassel – Die Landesbehörde Hessen Kassel Heritage vermietet in der Karlsaue elf Wohneinheiten. Darin leben 16 Menschen – unter anderem der Kunsthistoriker Harald Kimpel.
Herr Kimpel, wohnen Sie am schönsten Ort Kassels?
Da gehen die Meinungen auseinander. Ein früherer Chef der MHK hat mir mal gesagt: „Wenn man im Paradies wohnt, muss man in Kauf nehmen, dass einem eine Kokosnuss auf den Kopf fällt.“ Die Kokosnüsse, die hier fallen, sind zahlreich. Aber wenn morgens um sieben die Gärtner ausschwärmen und anfangen, den Vorgarten zu bearbeiten, können durchaus landgräfliche Gefühle entstehen. Und wenn Samstagnacht Horst H. Baumanns Laserstrahlen über den Gräben leuchten oder im Herbst der Nebel aus der Wiese aufsteigt, kann ich die Kokosnüsse leicht vergessen.
Seit wann leben Sie in der Orangerie?
Seit 1981. Damals habe ich im Kulturamt der Stadt angefangen. Bis dahin war die Orangerie Mitarbeitern der MHK vorbehalten. Ich bin als städtischer Bediensteter da reingerutscht – und geblieben. Für jemanden, der sich mit der documenta beschäftigt, hat es einen gewissen Charme, in einem ihrer Gebäude zu leben. Die Orangerie ist im Grunde kein historischer Bau. Sie wurde erst 1977 zur documenta 6 rekonstruiert. Und seitdem wird sie uns als Perle des Barock vorgeführt.

Harald Kimpel lebt in der Orangerie Kassel: Sanierung sei notwendig
Wie lebt es sich dort?
Das Leben hier hat Vor- und Nachteile. Zum Beispiel gehört die Lärmbelästigung durch das Umfeld zu den Mängeln. Und die nimmt deutlich zu. Nicht nur durch die Gastronomie am anderen Ende des Gebäudes. Mit Einbruch der Dunkelheit wechselt das Publikum. Aus Spaziergängern werden Partygänger, die sich bevorzugt am Marmorbad zusammenfinden. Und mit der Feierlaune steigt der Geräuschpegel. In lauen Sommernächten spielt sich hier einiges ab, wohl auch aus Unkenntnis, dass im Haus jemand wohnt.
Unabhängig davon müsste das gesamte Gebäude gründlich saniert werden. Im Winter sorge ich durchs Heizen dafür, dass auf der Wiese kein Schnee liegt – die Fenster sind jämmerlich undicht. Die Orangerie ist technisch auf dem Niveau des sozialen Wohnungsbaus der 1970er-Jahre. Verbesserungsfähig ist auch die Alarmanlage des Museums. Immer wieder gibt es Fehlalarm. Und wenn Polizei oder Feuerwehr nachts noch Licht sehen, führt das gelegentlich zu Missverständnissen. Mittlerweile aber kennen sie mich. Trotz dieser zwiespältigen Situation beneiden mich manche um die Lage.

Nicht weit von der Orangerie Kassel: Das Naturerholungsgebiet der Karlsaue
Welche Bedeutung hat die Karlsaue für Sie?
Die Karlsaue ist eine bedeutende Anlage, wie sie andere Städte gerne hätten. Von 1970 bis 1975 habe ich an der Kunsthochschule studiert. So war ich also schon immer mit dem Park verbunden. Heute brauche ich nur aus der Tür zu treten und bin gleich mittendrin – am Start zum Beispiel für einen Gang zur Insel Siebenbergen am anderen Ende des Geländes.
Die Karlsaue ist historisches Erbe und zugleich Naherholungsgebiet, in dem Menschen Sport treiben oder feiern. Das führt zu Konflikten. Wie kann man hier die richtige Balance finden?
Verordnungen nützen offensichtlich nichts. Es geht wohl nur mit Appellen an die Einsicht der Menschen – der Fußgänger, Radfahrer, Picknick- und Partymacher. Die Konflikte haben deutlich zugenommen. Es ist ein Mentalitätswandel im Umgang mit dem öffentlichen Raum im Gange. Viele testen aus, wie weit sie gehen können. Und wo keine Widerstände sind, geht das ziemlich weit.
Seit Jahren wird über das Radfahrverbot gestritten. Sollte man in der Karlsaue radeln dürfen?
Dieses Problem ist wohl unlösbar. Ich denke, dass man als Kompromiss eine Querung regeln könnte. Das generelle Radverbot halte ich aber für angemessen. Es muss Zonen in der Stadt geben, an denen man sich unbehelligt von allen anderen Verkehrsteilnehmern bewegen kann. Zwar kann man sich auf den breiten Alleen problemlos aus dem Weg gehen, aber insgesamt ist es doch lästig, dass die Karlsaue zu einer Fahrradfreizeitanlage geworden ist.

Harald Kimpel: Vielfältigkeit macht die Orangerie Kassel liebenswert
Gibt es einen anderen Ort in Kassel, an dem Sie gern wohnen würden?
Ich bin mit diesem Stück Kassel so vertraut, dass ich mir momentan nur schwer vorstellen kann, woanders zu leben.
Das Wort Liebe nehmen Sie nicht in den Mund.
Das wäre vielleicht ein zu großes Wort. Ich schätze den Ort über alle Maßen und in all seiner Zwiespältigkeit. Die Karlsaue ist nicht nur Idylle, sondern auch Stress.
(Matthias Lohr)