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Die Ukrainerin Inna Tsytsak lebt mit ihren Zwillingen in Kassel

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Von: Katja Rudolph

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Neuanfang in Kassel: Inna Tsytsak mit ihren Töchter Sofia (links) und Solomia.
Neuanfang in Kassel: Inna Tsytsak mit ihren Töchter Sofia (links) und Solomia. © Katja Rudolph

Vor einem Jahr hat Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfacht. Seitdem sind Millionen Menschen auf der Flucht. Inna Tsytsak erzählt ihre Geschichte.

Kassel – Den heutigen Tag wird Inna Tsytsak in Anspannung und Unruhe verbringen. Die 36-Jährige wird wie jeden Tag ihren Deutschkurs besuchen. Doch heute ist ihre Angst besonders groß, dass es schlechte Nachrichten aus der Heimat geben könnte. Dass Putin mit seiner Armee an diesem 24. Februar, dem ersten Jahrestag seines Angriffskriegs gegen die Ukraine, erst recht Stärke und Macht demonstrieren will.

Wenige Tage nach Beginn des Krieges hat Inna Tsytsak mit ihren Zwillingstöchtern Sofia und Solomia ihre Heimatstadt Winnyzja in der Zentralukraine verlassen, um den ständig heulenden Sirenen und Bombengefahr zu entkommen. Weil ihr Bruder seit mehreren Jahren in Kassel lebt, wo er als Gynäkologe an den Diakonie-Kliniken arbeitet, suchte sie hier Schutz mit ihren Kindern.

Inna Tsytsaks Ehemann ist noch in der Ukraine, wo er trotz des Krieges als Ingenieur arbeitet. Wenn es in Winnyzja Strom gibt, versucht die Familie täglich zu telefonieren. „Die Kinder haben große Sehnsucht nach ihrem Vater“, sagt die Mutter.

Zu Besuch in der Heimat

Zwischen den Jahren war sie für einige Tage in der Heimat zu Besuch. Die Menschen dort hätten sich an Alarm und Gefahr ein Stück weit gewöhnt, war ihr Eindruck. Trotz des Abschiedsschmerzes war die zweifache Mutter am Ende froh, wohlbehalten zurückzukehren nach Deutschland.

Hier hat die 36-Jährige im April eine Drei-Zimmer-Wohnung im Wesertor gefunden, die sie größtenteils mit gespendeten Möbeln ausgestattet hat. Dafür sei sie sehr dankbar, betont sie. Und auf Nachfrage: „Natürlich ist es nicht so gemütlich wie Zuhause.“ Auch ihre Schwiegermutter Tetiana, die im Juni kam, lebt dort und unterstützt die Familie im Alltag.

In den ersten Monaten nach der Flucht ging es ihr oft schlecht, erzählt die Kinderärztin, die in Winnyzja in einem Krankenhaus gearbeitet hat. Inzwischen habe sie sich eingelebt. Auch wenn ihr die Mentalität in Deutschland manchmal noch etwas fremd sei: „In der Ukraine sind spontane Treffen mit Freunden und der Familie normal. Hier muss man sich immer Tage vorher verabreden“, sagt sie und lacht.

Zwillinge besuchen Kita-Gruppe für ukrainische Kinder

Sofia und Solomia, die gerade 6 Jahre alt geworden sind, gehen tagsüber in eine Kita-Gruppe für ukrainische Kinder, besuchen nachmittags dreimal die Woche eine Tanzschule für Ballett und Hip-Hop und werden nach den Sommerferien eingeschult. Ihre Mutter konzentriert sich auf den Deutschkurs, um möglichst bald ausreichende Sprachkenntnisse für den hiesigen Arbeitsmarkt nachweisen zu können. „Dann werde ich mich besser fühlen, weil ich mich mehr nützlich fühle“, sagt sie.

Auch vor dem Krieg habe sie schon darüber nachgedacht, nach Deutschland zu ziehen, sagt Inna Tsytsak. Hier könnten die Kinder eine gute Ausbildung bekommen und sie habe bessere Verdienstmöglichkeiten. Nun trieb der Krieg sie her – ungeplant, überstürzt, alternativlos.

Sie habe lange gehofft, dass der Albtraum schnell wieder enden würde, sagt Inna Tsytsak – dass der Krieg nur ein paar Tage dauern möge, Wochen, Monate. Ein halbes Jahr. Nun ist bereits ein Jahr Krieg in ihrer Heimat. Und hoffen, das könne sie nicht mehr, sagt sie. „Wir müssen weitermachen.“ Sie wird sich wohl ein neues Leben aufbauen, in Kassel.

Freunde sind im Krieg gestorben

Als es heute vor einem Jahr losging, hat kaum jemand erwartet, dass die Ukraine den russischen Aggressoren so lange standhalten würde. Wenn Inna Tsytsak so etwas hört, sagt sie: „Aber wie viele Menschen sind in diesem Krieg gestorben? Wie viele Eltern müssen ohne ihre Kinder weiterleben und Kinder ohne ihre Eltern? Es ist schrecklich.“

Auf die Frage, ob sie selbst schon Freunde oder Angehörige verloren hat, schießen ihr die Tränen in die Augen. Die 36-Jährige, die so patent und rational wirkt, scheint fast überrascht von ihrer Emotion. „Ich dachte nicht, dass es noch so ist“, sagt sie, schaut zur Seite und wischt sich über die Augen. Ein langjähriger Freund und Kollege starb im Sommer nach der Bombardierung eines Krankenhauses in Winnyzja an schweren Verbrennungen, erzählt sie. Ein anderer Studienfreund, der an der Front als Arzt im Einsatz war, ist schwer verletzt.

All dies auszuhalten, während man selbst in Sicherheit lebt – auch das ist eine Herausforderung am Leben in Deutschland. Ob sie noch an Frieden in der Ukraine glaubt? Momentan könne sie sich das nur schwer vorstellen. „Ich versuche, nicht darauf zu warten.“ (Katja Rudolph)

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