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Antisemitismus-Eklat: Rücktritt von documenta-Generaldirektorin gefordert

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Von: Matthias Lohr

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Der Kasseler Soziologe Heinz Bude (von links) diskutierte mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider und dem Kulturjournalisten René Aguigah an der Lehr- und Forschungsstation auf dem Lutherplatz.
Erkenntnisreiche Debatte: Der Kasseler Soziologe Heinz Bude (von links) diskutierte mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider und dem Kulturjournalisten René Aguigah an der Lehr- und Forschungsstation auf dem Lutherplatz. © Matthias Lohr

Heinz Bude, Direktor des documenta-Instituts, legt Generaldirektorin Sabine Schormann den Rücktritt nahe. Eine Diskussion mit dem Soziologen lieferte überraschende Erkenntnisse zur Antisemitismus-Kunst.

Kassel – Für Heinz Bude ist die documenta seit Montag (20. Juni) eine andere. Die antisemitische Kunst des indonesischen Kollektivs Taring Padi, die vier Tage auf dem Friedrichsplatz zu sehen war, habe alles verändert. „Es ist nicht mehr möglich, gute Laune zu verbreiten. Das wird nicht weggehen“, prophezeite der Soziologe und Direktor des documenta-Instituts am Dienstagabend in der Reihe „Gespräche zur Gegenwartskunst“, die sein Institut und das Uni-Forschungszentrum Traces veranstaltet.

Aber diskutiert werden kann (oder besser: muss) ja noch. Und das machte der Moderator Bude mit seinen Gästen. Eigentlich wollte der Kasseler Professor mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider und dem Kulturjournalisten René Aguigah über den Holocaust und Postkolonialismus reden. Doch dann ging es natürlich auch um das Taring-Padi-Kunstwerk, das laut Bude für die „Marke documenta die größte Beschädigung seit dem Bestehen“ ist.

Mehr zu dem Skandal auf der documenta:

Generaldirektorin Sabiene Schormann äußert sich im Interview mit der HNA zu dem Antisemitismus-Eklat auf der documenta in Kassel.

Das Kunstwerk auf dem Friedrichsplatz, das ganz offensichtlich judenfeindliche Motive enthält, wurde zuerst abgedeckt. Nun wurde das Kunstwerk auf der documenta in Kassel vollständig abgebaut und die Debatte geht weiter.

Antisemitismus in Kassel: Kunst auf der documenta wurde abgebaut – Löst nicht das Problem

Der in Mannheim geborene und in Tel Aviv lehrende Sznaider wäre einer der Teilnehmer der Diskussionsreihe „We need to talk“ gewesen, die die documenta nach den Antisemitismus-Vorwürfen konzipiert und dann abgesagt hatte – ein Kardinalfehler, wie viele Kritiker meinen. Denn wie wichtig es ist, miteinander zu reden, zeigte der erkenntnisreiche Abend vor mehr als 100 Besuchern an der Lehr- und Forschungsstation auf dem Lutherplatz.

Auch für Sznaider ist das Banner von Taring Padi ein „Bild der Schande“. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, das Transparent wäre unverhüllt stehen geblieben. Die Künstler hätten sich erklären sollen, warum sie das gemacht haben. Der 67-Jährige kritisierte die Verantwortlichen, weil sie „glauben, dass das Problem durch Abdeckung oder Entfernung gelöst sei. Wir können das nicht einfach wegdiskutieren. Ich sage das als jüdischer Mensch, auch wenn das bei vielen Juden auf Widerspruch stoßen wird.“

documenta in Kassel: Direktor des documenta-Instituts äußert sich zu antisemitischer Kunst

Auch Gastgeber Bude wählte deutliche Worte. Zwischenzeitlich verließ der 68-Jährige die Bühne, um ein Live-Interview für die „Kulturzeit“ auf 3 Sat zu geben. Darin forderte er mehr oder weniger unverblümt den Rücktritt der documenta-Generaldirektorin, die er schon in den vergangenen Wochen kritisiert hatte. Womöglich sei ihr einiges über den Kopf gewachsen. Jemand müsse Verantwortung übernehmen: „Man kann selber versuchen, Konsequenzen daraus zu ziehen. Man kann aber auch von anderen dazu gezwungen werden.“

Für den Journalisten Aguigah hat das Taring-Padi-Kunstwerk eine andere Qualität als die Antisemitismusvorwürfe im Vorfeld, bei denen es darum gegangen sei, ob einzelne Kuratoren oder Künstler einen Offenen Brief zur Israel-Boykottbewegung BDS unterzeichnet haben. Damals habe man „über eine Ausstellung gesprochen, die es noch gar nicht gab“, sagte der Ressortleiter bei Deutschlandfunk Kultur.

Diskussion über antisemitischer Kunst auf documenta in Kassel

Sznaider wiederum kritisierte den Postkolonialismus, jene Denkrichtung, nach der ehemalige Kolonien auch heute noch von eurozentrischen Sichtweisen beherrscht würden und die bei der documenta fifteen allgegenwärtig ist. Laut Sznaider stilisieren Anhänger dieses interdisziplinären Ansatzes auffallend oft Israel zum Urfeind. Aus ihrer Sicht hätten Israelis „ein Land erobert, das ihnen nicht gehört, und die ursprüngliche Bevölkerung ausgebeutet“. Es fehle der Wille, sich mit den jüdischen Aspekten des Zionismus auseinanderzusetzen.

Für Bude ist der Kern der Problematik die Frage, ob postkoloniale Theoretiker Israel für einen normalen oder einen illegitimen Staat halten. Darauf gab es ebenso wenig eine Antwort wie auf die Frage, wie genau eigentlich Antisemitismus definiert wird. Sznaider zitierte einen schmerzhaft ironischen Satz, der dem jüdischen Philosophen Isaiah Berlin zugeschrieben wird: „Antisemitismus ist, Juden mehr zu hassen, als es absolut notwendig ist.“ Es wird also weiter diskutiert werden müssen.

Nächster Termin der Reihe am 5. Juli (18 Uhr) mit dem Soziologen Aladin El-Mafaalani: Heimat und Alptraum: Das Integrationsparadox. (Matthias Lohr)

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