Das RP Gießen verweist zum einen auf die gestiegenen Antragszahlen. Vergangenes Jahr musste der Standort Kassel 10 600 Anträge bearbeiten. Zwei Jahre zuvor waren es 600 weniger. Die gesetzlich erweiterten und sehr flexiblen Bezugsmöglichkeiten brächten eine hohe Antragszahl mit sich, so ein RP-Sprecher.
Zudem seien die Regelungen des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes komplexer geworden. Je nach Geburtstermin müsse nach altem oder neuem Recht (ab 1. September 2021) entschieden werden. Durch die Pandemie seien weitere Besonderheiten (Einkommensverluste) bei der Berechnung des Elterngeldes zu berücksichtigen.
Um die Probleme zu lösen, sollen Mitarbeiter eingestellt werden. Deren Einarbeitung werde aber einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Behörde weist darauf hin, dass für einen reibungslosen Bearbeitungsverlauf der Antrag vollständig (mit allen Angaben und Unterlagen) eingereicht werden muss. Jede Nachermittlung führe zu „nicht unerheblichen Zeitverzögerungen“. Die Anträge können online gestellt werden. Eltern können sich bereits sechs Monate vor dem errechneten Geburtstermin registrieren, Angaben machen und die Eintragungen jederzeit aktualisieren.
Pascal Apholz aus Kassel ist am 9. Februar zum ersten Mal Vater geworden. Um gleich nach der Geburt für Kind und Mutter da zu sein, hatte er zwei Monate Elternzeit und Elterngeld beantragt. „Hätte ich gewusst, was das finanziell bedeutet, hätte ich erst mal weiter gearbeitet. Beim nächsten Kind werde ich nicht direkt Elternzeit nehmen“, sagt der 34-Jährige.
Denn obwohl die junge Familie – sobald sie die Geburtsurkunde in den Händen hielt – einen Online-Antrag beim Hessischen Amt für Versorgung und Soziales in Kassel gestellt hat, wartet sie noch immer auf den Bescheid und die Auszahlung.
Mehrfach haben Pascal und Kim Apholz bei der Elterngeldstelle nachgehakt, doch immer wurden sie vertröstet. Zuletzt wurden sie bei der übergeordneten Behörde beim RP Gießen hingehalten: „Wir sollten doch noch mal vier Wochen warten“, erzählt der junge Vater. Solche Verzögerungen brächten Eltern in echte Existenznöte.
In seinem Fall war auch seine Frau bis zur Schwangerschaft voll berufstätig. Dass es deshalb finanzielle Einbußen mit der Geburt des Kindes geben würde, war dem Paar bewusst. Dass sie aber wochenlang nur vom Mutterschaftsgeld und einem Zuschuss ihres Arbeitgebers leben müssen, sei ihnen aber nicht klar gewesen. Apholz fragt sich, wie Alleinerziehende in so einer Situation klar kommen wollen. Die säßen dann schnell auf der Straße. „Wenn die Behörden von uns Geld haben wollen, muss es immer schnell gehen, aber andersherum dauert es“, macht sich Apholz Luft.
Das RP Gießen räumt die Personalprobleme ein: Die Mitarbeiter der Elterngeldstellen arbeiteten „weit über das normale Maß hinaus“ und versuchten „alles Mögliche zu tun, um die Bearbeitungszeiten zu verkürzen“, so ein RP-Sprecher. Dieser sieht die Schuld in einigen Fällen aber auch bei den Eltern. Anträge sollten zeitnah nach der Geburt gestellt werden und nicht erst nach Ablauf der Mutterschutzfrist. Zudem habe die Einreichung unvollständiger Anträge oft umfangreiche Nachermittlungen zur Folge. Wenn die Antragssteller ihre nachgereichten Unterlagen ohne Zuordnung vorlegten (Name und Geburtsdatum des Kindes, Geschäftszeichen, Adresse etc.), müssten die Schreiben zunächst zeitaufwendig zugeordnet werden.
Deshalb sei es hilfreich, sich im Vorfeld der Antragstellung über das Antragsverfahren zu informieren. Umfangreiches Material gebe es bei der Fachaufsicht Elterngeld (familienatlas.de/elterngeld).
Darüber hinaus seien mitunter andere Behörden in die Bearbeitung eingebunden (Jobcenter, Familienkassen etc.), auf deren Rückmeldung die Elterngeldstelle angewiesen sei und keine vorherige Entscheidung treffen dürfe.
Mit mehr Personal solle der steigende Arbeitsaufwand besser bewältigt werden, verspricht der RP-Sprecher. Die Einarbeitung der neuen Kollegen in die komplexe Materie sei aber zeitaufwendig. Eine Verbesserung der Situation könne daher „erst mittelfristig“ erreicht werden.
Werdenden Vätern rät das Regierungspräsidium Gießen ein finanzielles Polster anzulegen, wenn sie unmittelbar nach der Geburt in Elternzeit gehen wollen. Denn durch das Warten auf die Geburtsurkunde und die anschließende Bearbeitung des Antrags müsse einige Zeit überbrückt werden. (Bastian Ludwig)
Erst im vergangenen September hatte die Bundesregierung das Elterngeld und weitere Hilfen für Familien angepasst.