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Streit um Völkerball: Spiel soll Mobbing und Diskriminierung fördern

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Von: Matthias Lohr

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2005 war Völkerball Trendsport: Auch bei Dynamo Windrad wurde damals gespielt, wie unsere Zeitung seinerzeit berichtete. Repro: nh
2005 war Völkerball Trendsport: Auch bei Dynamo Windrad wurde damals gespielt, wie unsere Zeitung seinerzeit berichtete. © nh

Das Abwurfspiel Völkerball soll Mobbing, Diskriminierung und sogar Rassismus fördern. An manchen Schulen ist auch der Begriff verpönt. Sind die Vorwürfe berechtigt? 

Kassel – Droht dem Völkerball das Aus? An einigen Kasseler Schulen wurde das beliebte Abwurfspiel im Sportunterricht zuletzt nicht mehr so genannt. Kritiker fordern gar, ganz auf Völkerball zu verzichten, weil es Mobbing, Diskriminierung und sogar Rassismus fördere, wie eine Studie bereits 2019 feststellte.

Dies wurde auch im Studium und im Referendariat vermittelt, wie Sportlehrer Sebastian Koch sagt, der an der Offenen Schule Waldau unterrichtet. In der Lehrerausbildung seien die Begriffe Zweifelderball, Abtreffball und Parteiball verwendet worden, da Völkerball nicht politisch korrekt sei.

Streit um Völkerball: Sportwissenschaftler hält Kritik für „total berechtigt“

Ursprünglich symbolisierte das Spiel, bei dem sich zwei Mannschaften gegenseitig mit einem Ball abwerfen, die Schlacht zwischen zwei Völkern. In diesem rituellen Kriegsspiel ist jeder Akteur, der abgeworfen wird, quasi ein Gefallener. Die Kritik am Völkerball ist allerdings umstritten. Laut Koch wurden die heimischen Sportlehrkräfte „auf der Sportleiterfachkonferenz des vergangenen Jahres darauf hingewiesen, dass der Begriff wieder anwendbar ist“.

Sportwissenschaftler Benjamin Zander hält die Kritik dennoch für „total berechtigt“. Der Didaktikexperte beschäftigt sich an der Universität Göttingen vor allem mit Schülern, die im Sportunterricht leiden. Zander verweist auf die kanadische Studie der Sportpädagogin Joy Butler, in der das Spiel als legalisiertes Mobbing und organisierter Rassismus bezeichnet wird, weil es einzig darum gehe, andere zu treffen und zu verletzen, Schwächere zu stigmatisieren und Menschen anderer Hautfarbe und mit einem anderen Aussehen zu diskriminieren.

Laut Zander grenzt es für Schüler an körperliche Verletzung, wenn sie abgeworfen werden: „Den Körper, den man sich nicht aussuchen kann, so in den Fokus zu rücken, ist nicht zeitgemäß.“ Dagegen sprechen laut dem hessischen Kultusministerium „aus fachlicher Sicht keine Gründe gegen einen umsichtigen Einsatz von Abwurfspielen im Sportunterricht“. Die Grundidee des Völkerballs sei unlängst pädagogisch modernisiert worden. Auch der Name sei nicht mehr militaristisch konnotiert.

Kassel: Wegen Kino-Hit wurde Völkerball Trendsport

Vor 18 Jahren war Völkerball auch in Kassel das nächste große Ding. Im Kino war die US-Komödie „Dodgeball“ zum Hit geworden, in der Vince Vaughn und Ben Stiller zwei Fitnessstudio-Betreiber spielen, die eine Variante von Völkerball zum Trendsport machen. Die Disziplin hieß so wie der Film. In Deutschland lief der Streifen aber unter dem bezeichnenden Namen „Voll auf die Nüsse“.

Das gab es wenig später auch bei Dynamo Windrad. Der Alternativsportverein gründete eine Völkerball-Gruppe, die sich jeden Montagabend in der Turnhalle der Heinrich-Schütz-Schule traf. Auch unsere Zeitung berichtete damals über den Trendsport, der ja gar nicht neu war. Ein nachhaltiger Trend wurde das jedoch nicht. Die Völkerball-Gruppe bei Dynamo hat sich längst aufgelöst.

Dafür gerät das Abwurfspiel in die Kritik. Schon seit Jahren heißt es, Völkerball fördere Mobbing und Diskriminierung und sogar Rassismus, weil es nur darum gehe, die Schwächeren und Menschen mit einem anderen Aussehen zu stigmatisieren. Der Sportwissenschaftler Benjamin Zander von der Uni Göttingen hält die Kritik für berechtigt. Unangenehm sei es nicht nur, abgeworfen zu werden. Zander verweist auch auf den Mannschaftsdruck: „Man trägt zum Erfolg einer Mannschaft, aber auch zur Niederlage bei. Es kann sein, dass man auch von der eigenen Mannschaft ausgegrenzt, herumkommandiert und beschimpft wird.“

Völkerball polarisiert: Die Inszenierung sei das Problem

Das Spiel polarisiere stark. Die einen fänden es toll, für die anderen grenze es an Körperverletzung. „Nicht das Spiel ist das Problem, sondern die Inszenierung“, sagt Zander: „Wenn Sportlehrkräfte die Gruppe sich selbst überlassen, finden beim Völkerball Ausgrenzungsmechanismen statt, die es auch auf dem Schulhof gibt.“ Den Begriff Völkerball hält er für politisch aufgeladen und „durch das Mitschwingen von kultureller Homogenität und ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit absolut verzichtbar“. Er bevorzugt deshalb Zweifelderball.

Dagegen verweist man im hessischen Kultusministerium darauf, dass der Name heute längst nicht mehr mit der Herkunft von Völkerball als rituellem Kriegsspiel verbunden werde. Wurden in der Lehrerausbildung zuletzt noch andere Begriffe verwendet, wird heute vielerorts wieder Völkerball gesagt – auch an der Offenen Schule Waldau (OSW), wo Sebastian Koch Sport unterrichtet. Er sagt: „Viele Schüler haben ein Bewusstsein für Begriffe, die problematisch sein können. Anderen war es aber auch egal.“

Koch sieht die Vor- und Nachteile des Spiels. Auf der einen Seite sei Völkerball gut zum Aufwärmen und zur Förderung der Koordination geeignet. Auf der anderen Seite würden schwächere Schüler kaum gefördert, weil viele von ihnen den Ball freiwillig den guten Leuten zum Werfen geben würden.

Im vorigen Jahr wurden die Schulen mit den Folgen der erfolgreichen Netflix-Serie „Squid Game“ konfrontiert. In dem Streaming-Hit aus Südkorea müssen die Protagonisten zwar nicht Völkerball, aber andere Kinderspiele spielen. Wer verliert, wird erschossen. Trotz oder gerade wegen des makaberen Hintergrunds wollten nicht nur an der OSW Schüler die Spiele nachspielen. Wegen der Gewaltverherrlichung seien jegliche Ideen der Schüler abgelehnt worden. Auch an anderen Schulen reagierte man so. (Matthias Lohr)

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