Die Schulleitung habe nach dem Krieg alle katholischen Familien in Kassel abgeklappert, um Schülerinnen zu gewinnen. Mit einer Quinta und einer Sexta und 30 Schülerinnen wurde 1947 mit dem Unterricht am Akazienweg begonnen. Angela Kozusnicek-Stengele gehörte zu den ersten zwölf, die angemeldet wurden. Darauf ist sie ein bisschen stolz. Auch darauf, dass sie im Kunstunterricht das spätere Schullogo, ein Kreuz verknüpft mit einem E, entworfen hat.
Trotz der schwierigen Nachkriegsjahre hatten sich ihre Eltern für die freiwillige Zahlung von Schulgeld für das Privatgymnasium entschieden, damit die Tochter eine „gute höhere Bildung“ erhält.
Die Frauen erinnern sich an eine Zeltfreizeit an der Krukenburg. Da sei auf dem Gelände auch eine Jungengruppe gewesen. „Ach du lieber Gott, was da alles unternommen wurde, damit wir nicht zusammentreffen“, erinnert sich Kozusnicek-Stengele. Zur Vorsicht schlief die Klassenlehrerin, Schwester Pia-Maria, bei den Schülerinnen im Zelt.
Fürs Abitur mussten sie sich auf alle Fächer vorbereiten. „Wir wussten nicht, was geprüft wurde.“ Der Schulabschluss wurde dann „ganz gesittet“ zusammen mit den Eltern im Café Paulus (heute Alex) gefeiert.
Anders als es das damals gängige Frauenbild vorsah (Göttlicher: „Die Idee zu heiraten, Kinder zu bekommen und sich um den Haushalt zu kümmern, gehörte zu unserem Lebensgefühl“) erlernten Göttlicher und Kozusnicek-Stengele Berufe, studierten und waren – zum Teil von Kinder- und Familienpause unterbrochen – bis zur Rente berufstätig (als Versicherungskauffrau und Opernsängerin sowie als wissenschaftliche Bibliothekarin).
„Im Unterricht haben wir nur christliche Literatur gelesen, Ernst Wiechert etwa, erzählt Ursula Göttlicher. „Dabei hätte ich mich gerne mit Sartre und den Existenzialisten beschäftigt“ Sie betont: „Wir sind aber stets zu einer kritischen Sicht der Dinge aufgefordert worden.“ Das habe sie geprägt.
Eine Schule, in der die Lektüre von Hemingway und Sartre verpönt ist, und wo die Schülerschaft nur aus Mädchen (oder Jungs) besteht, kann sich Julius Ernst (19), der gerade sein Abitur an der Engelsburg abgelegt hat, gar nicht vorstellen. „Ich halte es für wichtig, dass Bildung neutral ist“, sagt er. Zwar merke man, dass die Engelsburg eine christliche Schule ist, aber: „Das muss ja nicht schlecht sein.“ In der ersten Stunde werde gebetet. „Doch dazu wird keiner gezwungen.“ Es habe am Akazienweg immer genug Raum für andere Meinungen gegeben, blickt Julius zurück und sagt wie zum Beweis: „Ich finde Christentum ganz cool, bin aber Atheist.“ Die Strukturen seien längst nicht mehr steif wie vor 75 Jahren.
Nach den Prüfungen unter anderem in seinen Leistungskursen Deutsch und Englisch hat Julius sein Abi mit der Note 1,2 abgelegt. Schon seine Mutter habe die Engelsburg besucht, sagt er nach kurzem Überlegen auf die Frage, warum seine Familie diese Schule gewählt habe. Auch die Möglichkeit zu G9 habe eine Rolle gespielt.
Der Kasseler Julius Ernst, der Schach spielt und für einen Fußballverein im Tor steht, möchte Filmwissenschaften und Germanistik studieren. „Ich interessiere mich für das Erzählen von Geschichten“, sagt er, „ob filmisch oder in Schriftform. Ich möchte Autor werden.“
Seine Schule, die Engelsburg, habe zum nötigen Weitblick und Selbstvertrauen beigetragen, um seine Pläne guten Mutes anzugehen.