Interview: Experte über Bürgerbeteiligung beim documenta-Institut in Kassel

Gesucht wird der ideale Standort für das documenta-Institut. Viele Plätze waren schon im Gespräch, nun soll eine Bürgerbeteiligung helfen, den besten Ort zu finden.
Kassel – Am Mittwoch werden sich 180 Menschen aus Kassel informieren und am Ende ihre Einschätzung abgeben. 120 davon sind per Zufall ausgewählte Einwohner aus den einzelnen Stadtteilen, die insgesamt die Stadt repräsentieren: Jüngere, Ältere, Männer, Frauen. Wie aber läuft die Beteiligung genau ab? Ein Gespräch mit dem Experten Erik Flügge aus Köln, der die Veranstaltung am Mittwoch in Kassel auch moderieren wird.
Was könnte mal aus Deutschland werden, wenn wir wirklich alle Menschen beteiligen würden? Diese Frage stammt von Ihnen, Herr Flügge. Können Sie die Antwort darauf in zwei Sätzen geben?
Ich glaube, dass Menschen, die ernsthaft beteiligt werden, lernen, den anderen einzubeziehen. Sie verstehen also, was Politik in der Demokratie leistet: nämlich ein Umgehen mit unterschiedlichen, jeweils berechtigten Interessen. Deshalb ist es mir auch wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger genau das in jeder Beteiligung miterleben: dass es nicht das eine Interesse gibt, das richtig ist, sondern dass es viele unterschiedliche Interessen gibt, die durchaus richtig sein können, und es darum geht, wie man damit umgeht.
Viele Entscheidungsträger in der Politik starten mit dem Versprechen, die Bürger beteiligen zu wollen. Irgendwann stellen sie dann frustriert fest, dass das gar nicht so einfach ist und verzichten lieber auf Bürgerbeteiligung. Was machen die falsch?
Mein Erleben ist, dass viele – seien es Oberbürgermeister, Bürgermeister oder Stadträte – sehr gute Erfahrungen mit Bürgerbeteiligungen machen. Aber ich kann Ihnen auch sagen, was die frustrierenden Erfahrungen sind.
Nämlich?
Wenn sie als Entscheidungsträger an der falschen Stelle beteiligen – nämlich an einer Stelle, an der eigentlich schon alles entschieden ist. Dann lassen sie die Bürger in den Frust laufen. Oder: Wenn sie an einer Stelle beteiligen, an der die Rahmenbedingungen noch gar nicht klar sind, dann laufen sie selber in den Frust, weil sie zu viele Ansprüche haben, die sie nicht erfüllen können.
Können Sie das an einem konkreten Beispiel festmachen?
Ich habe mal die Bürgerbeteiligung für eine Gartenschau übernommen. Da hatte ich Ergebnisse aus dem ersten Beteiligungsprozess vorliegen. Wenn man die alle nebeneinandergelegt hätte, dann hätte man so eine Art Parkdecks einziehen müssen, um alle Wünsche zu berücksichtigen.
Woran lag das?
Weil die Bürger nicht wussten, um welche Fläche es sich genau handelte, als sie diese Vorschläge gemacht haben. Als wir dann eine neue Beteiligung gemacht haben, haben wir den Bürgern die Fläche genau gezeigt und sie erlebbar gemacht. Das hat dann funktioniert. Die Leute haben sogar gesagt: Lasst uns das nicht so vollstellen, lasst uns kein Disneyland daraus machen. Daran merkt man, dass man wesentlich konstruktiver arbeiten kann, wenn die Menschen wissen, was die Konsequenzen ihrer Entscheidung sind.
Das heißt: Wie stelle ich eine Bürgerbeteiligung an?
Sie müssen sie an der richtigen Stelle machen. Bei einer Standortfrage – wie jener nun in Kassel – ist der richtige Punkt, wenn die Politik im unmittelbaren Nachgang dazu eine Entscheidung trifft. Dann gibt es eine wechselseitige Relevanz. Wenn Sie fünf Jahre vor der politischen Entscheidung die Bürger einbeziehen und dazwischen noch etliche Prüfschritte anstehen, dann wird es nicht funktionieren.
Was ist konkret bei der Bürgerbeteiligung in Sachen documenta-Institut noch wichtig?
Alle fünf Standorte und damit alle Möglichkeiten sind auf ihre Realisierbarkeit hin geprüft. Das ist das Entscheidende. Sie könnten ja theoretisch auch andere Standorte zur Diskussion stellen, die aber noch gar nicht geprüft sind. Aber dann würden Sie enormen Frust hervorrufen, wenn die Menschen begeistert davon sind, sich dann aber herausstellt, dass die Möglichkeit gar nicht realisierbar ist. Deshalb gilt: Was in die Beteiligung gegeben wird, muss möglich sein.
Wie läuft der Beteiligungsprozess am Mittwoch denn dann konkret ab?
Die Teilnehmer werden umfassend informiert: über das, was entstehen soll, und über die verschiedenen Möglichkeiten. Jeder vorgeschlagene Standort wird präsentiert von einem neutralen Experten. Die Teilnehmer haben dann in kleinen Gruppen die Gelegenheit, Experten zu befragen. Ganz zum Schluss füllen die Teilnehmer dann einen Fragebogen aus und geben ihre Einschätzung zu den einzelnen Standorten ab.
Wie stellen Sie sicher, dass nicht nur jene, die immer etwas sagen, zu Wort kommen?
Es dürfen sich alle zu Wort melden, die sich immer zu Wort melden. Herzlich gern. Wir wollen aber gleichzeitig sicherstellen, dass sich auch die einbringen, die für gewöhnlich sagen, ich rede doch nicht vor 160 Leuten, das traue ich mich nicht. Deswegen machen wir auch sehr kleine Runden. Es geht bei den Bürgerbeteiligungen nämlich immer darum, dass alle gehört werden – auch jene, die in der Minderheitenposition sind. Deshalb lassen wir am Ende die Fragebögen ausfüllen – und das auch noch anonym. Jeder Einzelne kann seine Sicht darstellen – und zwar durch Ankreuzen.
Am Ende entscheidet aber die Politik. Wie sind Ihre Erfahrungen, wie sie mit dem Ergebnis der Bürgerbeteiligung umgeht?
Wir werden gerade kein Votum der Bürger haben nach dem Motto: Dieser Standort soll es werden. Sondern wir werden am Ende zu unterschiedlichen Teilbereichen die Einschätzung der Bürger darüber haben, wie sie welchen Standort finden. Also: Wie finden Sie den Standort von der Lage her? Wie von der Attraktivität? Wir fragen also nicht: Welcher Standort soll es denn sein? Das dient dazu, dass die Politik sich die Ergebnisse gruppenspezifisch anschauen kann – also: Was haben denn die Frauen gesagt? Was die Jüngeren?
Und das hilft der Politik?
Meine Erfahrung ist, dass die Politik die Einschätzungen ernst nimmt, weil sie das Interesse hat, nicht völlig quer zu den eigenen Bürgern zu liegen. Die Politiker können dann zum Beispiel argumentieren, dass sie für den Standort A sind, weil sich für ihn vor allem die Jüngeren ausgesprochen haben, die am längsten davon profitieren – oder wie auch immer.
Das heißt: Bürgerbeteiligung kann die Entscheidung der Politik nicht ersetzen?
Formal ginge das. Würde die Stadtverordnetenversammlung beschließen, dass die Bürger zu einem bestimmten Thema eine Entscheidung herbeiführen sollen, dann könnte sie das machen. Aber ich würde es ihr nicht empfehlen.
Warum nicht?
Weil Stadtverordnete die gesamtstädtische Verantwortung im Blick haben müssen. Bürger können, müssen und sollen das gar nicht bei einer Einzelentscheidung. Wenn Sie die Menschen fragen, ob sie noch einen Park oder eine Schule haben wollen, dann werden Sie eine Mehrheit dafür bekommen. Aber die Bürger müssen sich eben auch keine Gedanken um Folgekosten oder Konkurrenzprojekte machen, wenn Sie eine solche Entscheidung treffen. Die Politiker aber schon. Deshalb bin ich großer Befürworter der repräsentativen Demokratie mit Stadtverordneten, die am Ende die Entscheidung treffen. Aber diese Stadtverordneten sollen in die Bevölkerung hineinhorchen können. Dazu dient die Bürgerbeteiligung.
Standort für das documenta-Institut
Das documenta-Institut soll sich der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte und Bedeutung der Ausstellung widmen – auf Grundlage des documenta-Archivs. Die genaue inhaltliche Ausgestaltung steht aber noch nicht fest – ebenso wenig wie der Standort. Ursprünglich waren für einen Neubau 24 Millionen Euro veranschlagt. Am Mittwoch sollen nun 180 zum Teil per Zufall ausgewählte Bürger fünf Standorte begutachten und ihre Einschätzung dazu abgeben. Zu den Standorten zählt das Ruruhaus. Die weiteren Vorschläge sind noch nicht öffentlich. Nach Informationen unserer Zeitung gehören aber auch Standorte am Ottoneum und am Regierungspräsidium als Vorschläge dazu. Nicht dabei sein soll zum Beispiel der von den Grünen einst ins Gespräch gebrachte Standort an der Wilhelmshöher Allee ganz in der Nähe der Torwache. (Florian Hagemann)