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Juraprofessor über den Lübcke-Prozess: „Gehört sich nicht für einen Richter“

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Von: Florian Hagemann, Kathrin Meyer

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Vorsitzender Richter: Thomas Sagebiel.
Vorsitzender Richter: Thomas Sagebiel. ©  Thomas Lohnes/AFP

Nach zweieinhalb Wochen Pause geht der Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke am Dienstag weiter. Was ist bisher passiert?

Im Interview zieht der Göttinger Juraprofessor Dr. Uwe Murmann eine Zwischenbilanz – und übt Kritik an Richter Thomas Sagebiel.

Herr Professor Murmann, nach 21 Verhandlungstagen im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke: Was war für Sie bisher das Überraschendste?

Das Überraschendste und Ungewöhnlichste war der Umstand, dass Verteidiger von ihrer Schweigepflicht entbunden wurden und sich im laufenden Verfahren zu einem Geständnis geäußert haben, das ein Angeklagter abgelegt hat. Das kommt sehr selten vor. Ich zum Beispiel habe es nie erlebt, obwohl ich auch jahrelang in der Praxis tätig war.

Lassen sich daraus Rückschlüsse ziehen auf das Innenverhältnis von Angeklagtem und seinen Verteidigern?

Dass das Innenverhältnis problembehaftet war, hat sich ja auch darin gezeigt, dass es aufgrund eines zerrütteten Vertrauensverhältnisses zur Entpflichtung eines der Verteidiger gekommen ist.

Entpflichtet wurde Frank Hannig. Was sich die Beobachter in dem Zusammenhang fragen: wie Angeklagter und Verteidiger generell zueinanderfinden. Hat man sich das so vorzustellen, dass sich Verteidiger anbieten, um Teil eines Prozesses zu werden, der in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird?

Für das konkrete Verfahren kann ich nichts dazu sagen. Praktisch läuft es so, dass Beschuldigte in einem Ermittlungsverfahren häufig schon Kontakt zu Verteidigern haben – möglicherweise auch, weil sie früher schon einmal mit der Justiz in Konflikt geraten waren. Wenn das nicht der Fall ist, so werden bei Gericht Listen geführt, in denen Anwälte eingetragen sind, die grundsätzlich bereit sind, als Pflichtverteidiger tätig zu werden. Und die können dann beigeordnet werden, wobei grundsätzlich jeder Rechtsanwalt beigeordnet werden kann. Aber es gibt eine Reihe von Kollegen in der Anwaltschaft, die in besonderer Weise ihre Bereitschaft erklärt hat.

Frank Hannig soll – so sagt es der Hauptangeklagte selbst – Stephan Ernst geraten haben, Markus H. zu beschuldigen. Hat Hannig rein strafrechtlich jetzt etwas zu erwarten?

Ob es zu einem gerichtlichen Verfahren kommen wird, muss man sehen. Aber dass die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt klären wird, davon ist auszugehen. Es steht ja im Raum, dass die zweite Aussage von Stephan Ernst, die Markus H. stark belastet hat, auf Vorschlag von Frank Hannig zustandegekommen ist. Und wenn diese Aussage nicht stimmen sollte, dann würde es eine falsche Verdächtigung darstellen. Das wäre eine Straftat. Dann wäre zu erwägen, ob Herr Hannig als Anstifter in Betracht käme.

Was hat Sie fernab der Verteidigerthematik noch überrascht?

Mich hat eine Aussage des Vorsitzenden Richters Thomas Sagebiel sehr überrascht, als er in Richtung der beiden Angeklagten gesagt hat: „Hören Sie nicht auf Ihre Verteidiger, hören Sie auf mich.“ Das hat zwar nicht für eine Befangenheit gereicht – in der Hinsicht, dass der Angeklagte den Eindruck bekommen kann, der Richter trete ihm voreingenommen gegenüber. Aber es ist eine ganz problematische Äußerung vor dem Hintergrund des für die Verteidigung wichtigen Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Mandant. Der Richter grätscht gewissermaßen dazwischen und torpediert das Vertrauensverhältnis zwischen Angeklagten und Verteidigern. Ich halte das für einen sehr problematischen Vorgang, der mir unangenehm aufgefallen ist. Es gehört sich nicht für einen Richter. Auch wenn das eine emotionale Situation gewesen sein mag, muss sich ein Richter als Profi unter Kontrolle haben.

Kurz vor der Herbstpause ist Markus H. freigekommen. Hat Sie das überrascht?

Es ist so, dass die Haft den dringenden Tatverdacht voraussetzt. Nachdem wir hier verschiedene widersprüchliche Geständnisse haben und eine Anfangsaussage des Hauptangeklagten, in der Markus H. an der Tat gar nicht unmittelbar beteiligt schien, war das jetzt nicht so überraschend, dass es zu einer solchen Entscheidung gekommen ist. Sie lag immer im Bereich des Möglichen, weil die Rolle von Markus H. ja außerordentlich unklar ist und ganz wesentlich vom Aussageverhalten des Hauptangeklagten abhängt. Dessen undurchsichtiges Vorgehen hat sicher Zweifel aufkommen lassen an der Version, dass Markus H. irgendwie beteiligt gewesen ist.

Kommt für solch eine Entscheidung dann auch der Grundsatz „In dubio pro reo“ zur Anwendung?

Der Grundsatz gilt für die Frage der Verurteilung: im Zweifel für den Angeklagten. Aber wenn der Verdacht löchrig wird, dann hat man nicht mehr die hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine Beteiligung von Markus H. anzunehmen ist. Und das reicht nicht, um den Haftbefehl aufrechtzuerhalten.

Viele denken jetzt, Markus H. sei komplett außen vor. Aber er ist nach wie vor Teil des Gerichtsverfahrens und weiterhin angeklagt. Er kann also weiterhin verurteilt werden.

Natürlich. Die Haftentscheidung ist das eine, die Frage der Verurteilung ist etwas anderes. Wobei ich annehmen muss, dass zum jetzigen Zeitpunkt das Gericht von der Schuld dieses Angeklagten nicht überzeugt ist. Wenn das Gericht keinen dringenden Tatverdacht sieht, signalisiert das auch, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine gerichtliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten vorliegt. Das kann sich aber durchaus noch einmal ändern.

Der Prozess dauert jetzt schon vier Monate, es gab 21 Verhandlungstage. Viele sehen die Pause in den Herbstferien als Halbzeit an. Liegt der Prozess zeitlich im Rahmen?

Wir haben durch die unterschiedlichen Geständnisse, die für einige Verwirrung gesorgt haben, einen etwas längeren Verlauf im Vergleich zu einer Verhandlung mit einer glatten Einlassung. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass wir es mit einem Prozess zu tun haben, der ausufert.

Kommen wir einmal zum Ablauf der Verhandlung. Auffällig war, dass die Reihenfolge der Zeugen und Sachverständigen nicht unbedingt ein logisches Schema erkennen ließ. Ist das üblich?

Das hängt vom Einzelfall ab. Die Verhandlungsleitung obliegt dem Vorsitzenden, der im Grundsatz auch die Reihenfolge bestimmt, in der Beweise erhoben werden. Womöglich gibt es da taktische Interessen der Verfahrensbeteiligten, was man zuerst haben möchte. Aber letztlich sind sie auch auf den Vorsitzenden angewiesen.

Können dem womöglich auch ganz pragmatische Dinge zugrundeliegen – etwa, wann die Zeugen gerade Zeit haben?

Natürlich. Manchmal ist es auch gleichgültig, wann ein Zeuge auftritt. Die Reihenfolge ist ja nicht immer verhandlungsentscheidend. Von daher kann das sehr pragmatische Gründe haben. Terminfindung ist häufig ein schwieriges Geschäft für Richter.

Stephan Ernst hat bisher drei Geständnisse abgegeben. Kann er damit rechnen, dass zumindest eines dieser Geständnisse sich strafmildernd auswirkt?

Im Grundsatz können Geständnisse strafmildernd berücksichtig werden, wobei es bei der Strafandrohung bei Mord, um den es hier geht, keinen Spielraum mehr gibt. Denn dafür ist nur die lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen. Da gibt es schlicht keine Strafzumessungsspielräume, die da auszuschöpfen wären.

Fernab der drei Geständnisse hat Stephan Ernst im Gerichtssaal so etwas wie Reue gezeigt. Könnte ihm das zugutekommen?

Die kann man ihm zugutehalten. Aber letztlich spielt das bei der Frage einer Verurteilung wegen Mordes in der Strafzumessung keine Rolle.

Als Laie fragt man sich, warum das Gericht eigentlich keinen Ortstermin anberaumt, um sich zum Beispiel ein Bild vom Tatort zu machen. Gibt es diese Möglichkeit überhaupt?

Die Möglichkeit besteht. Das Gericht entscheidet das im Rahmen seiner Aufklärungspflicht und klärt, ob es das für erforderlich hält. Das ist bislang wohl nicht der Fall gewesen.

Ist ein solcher Ortstermin denn üblich?

Nein, ein Ortstermin kommt eher selten vor, weil er sehr aufwendig ist – gerade in Coronazeiten. Das Gericht müsste komplett dorthin, die Öffentlichkeit gewährleistet sein. Das ist also nicht ganz so einfach. Davon abgesehen gibt es von polizeilicher Seite Tatortrekonstruktionen, die einen guten Eindruck vom Tatort vermitteln können. (Kathrin Meyer und Florian Hagemann)

Zur Person: Uwe Murmann

Uwe Murmann (57) ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Göttingen. Murmann studierte Rechtswissenschaften in Frankfurt und absolvierte sein Rechtsreferendariat am Landgericht Darmstadt. Anschließend war Murmann als Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Wirtschaftsstrafrechts tätig, bevor er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Strafrecht und Rechtstheorie der Universität Freiburg arbeitete. Nach seiner Habilitation 2003 wurde ihm die Lehrbefugnis für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie verliehen. Nach Lehrstuhlvertretungen an den Universitäten Freiburg und Erlangen wurde Murmann Staatsanwalt und Strafrichter in Berlin. 2006 folgte er einem Ruf der Uni Göttingen.

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