Viele Autofahrer halten zu wenig Abstand zu Radfahrern: Gefahr vor allem auf Radstreifen

Wirbel um Radfahrstreifen, die auch in Kassel auf Straßen gepinselt wurden: Nun hat ein Rechtsgutachten festgestellt, dass Radfahrer im seitlichen Abstand von mindestens 1,50 Meter überholt werden müssen.
Doch weil dies aufgrund der geringen Straßenbreite vielerorts nicht möglich ist, gilt für diese Abschnitte eigentlich ein Überholverbot.
Es war lange Zeit eine unklare Rechtslage. Laut Straßenverkehrsordnung (StVO) müssen Autofahrer beim Überholen von Radfahrern einen „ausreichenden Seitenabstand“ einhalten. Die laufende Rechtsprechung hat festgelegt, dass dies mindestens 1,50 Meter sind. Wer sich nicht daran hält, der steht bei einem Unfall in der Haftung. Unklar war bisher, ob die Regelung auch für Rad- und Schutzstreifen gilt.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft hatte dies durch ein Rechtsgutachten vom Verkehrsrechtler Prof. Dieter Müller erhellen lassen. Dieser kommt zum Schluss, dass für Schutzstreifen (durch gestrichelte Linie abgetrennter Fahrbahnteil) wie Radfahrstreifen (durch durchgezogene Linie abgetrennte Spur) dieses Abstandsgebot gilt.

Für Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, ist diese Einschätzung nur logisch: „Es darf für Rad- und Schutzstreifen nichts Schlechteres gelten als ohne Streifen.“ In der Praxis habe dies häufig ein Überholverbot zur Folge. Etwa dann, wenn wegen des Gegenverkehrs kein ausreichend großer Abstand eingehalten werden könne. Oder wenn eine Engstelle es unmöglich mache, den Abstand einzuhalten. „Die Kommune provoziert auf diese Weise Verstöße“, sagt Brockmann.
Lesen Sie ebenfalls: Radler wollen Kassel sicherer machen: So schlimm ist es in der Autostadt
Überholen in Kassel: Kölnische Straße und Tischbeinstraße besonders eng
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) in Kassel weist schon länger auf das Problem hin. Besonders eng sei es etwa auf der Kölnischen Straße und der Tischbeinstraße. „Die Schutz- und Radfahrstreifen vermitteln eine Scheinsicherheit. Wir fordern deshalb Radwege, die baulich von der Fahrbahn getrennt sind“, sagt der stellvertretende Vorsitzende Jürgen Vöckel. Wo dies möglich sei, müsse es umgesetzt werden.

Der ADFC beobachtet, dass Autos, Busse und Lkw den Abstand beim Überholen oft deutlich unterschreiten. „Die Rad- und Schutzstreifen begünstigen dies sogar. Viele Fahrer sind der Meinung, dass jeder seine Fahrspur hat und in seinem Bereich bleibt“, sagt Vöckel. Plötzliches Ausschwenken eines Radfahrers – etwa weil sich die Tür eines geparkten Autos öffnet – werde bei Vorhandensein eines markierten Streifens nicht bedacht. Diesen kontraproduktiven Effekt von markierten Streifen beobachtet auch Brockmann.
Lesen Sie auch: Diese Rad-Regeln kennen viele Autofahrer nicht

Der Verkehrsrechtsexperte Prof. Müller hat auch in einem weiteren Problemfeld für Klärung gesorgt. So dürfen Schutzstreifen laut StVO von Autos nur bei Bedarf und nicht durchgängig befahren werden. Aber was heißt „Bedarf“? Müller stellt klar, dass ein Bedarf nur bestehe, wenn Autofahrer dem Begegnungsverkehr ausweichen müssen. Zudem darf er befahren werden, um eine Hofeinfahrt oder Parkplätze jenseits des Schutzstreifens zu erreichen. Schutzstreifen dürften aber nicht befahren werden, um am stockenden Verkehr rechts vorbeizufahren. Dies gelte auch dann, wenn dort aktuell kein Radfahrer unterwegs ist.
Lesen Sie auch: Neue Radampeltaste an Frankfurter Straße in Kassel gibt Rätsel auf
Das sagt die Stadt Kassel zum Rechtsgutachten:
Der Stadt Kassel ist das aktuelle Rechtsgutachten bekannt. Ein Stadtsprecher sagte dazu: „Die Auffassung, die darin vertreten wird, wurde zur Kenntnis genommen. Inwieweit sich solche Meinungen in der praktischen Rechtsprechung durchsetzen, wird die Zukunft zeigen. Schlussfolgerungen bezüglich der Ahndung von Verstößen und der Planung von Verkehrsanlagen können letztlich nicht allein auf kommunaler Ebene gezogen werden.“
Auch dieses Thema könnte Sie interessieren: Kasseler Radentscheid wurde ausgebremst - Die wichtigsten Fakten zum Bürgerbegehren