„Tabu soll verschwinden“: Gynäkologin Nora Szász aus Kassel spricht über Schwangerschaftsabbrüche

Im Interview spricht die Kasseler Gynäkologin Nora Szász über den Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen, neun Monate nach der Abschaffung des Paragrafen 219a.
Kassel – Ende Juni 2022 hat der Bundestag beschlossen, den umstrittenen Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs abzuschaffen. Dieser hatte die Werbung für Abtreibungen bis dahin verboten.
Wir sprachen mit Nora Szász, Gynäkologin aus Kassel, die sich seit Jahren mit ihrer Kollegin Natascha Nicklaus für die Aufklärung über Schwangerschaftsabbrüche einsetzt und deshalb vor Gericht stand. Die Anklage wurde damals fallen gelassen.
Gynäkolgin aus Kassel erleichtert über Abschaffung des Paragrafen 219a
Frau Szász, seit der Abschaffung des Paragrafen 219a sind neun Monate vergangen. Was hat sich seitdem getan?
Zunächst ist es erleichternd, dass wir die Informationen zum Schwangerschaftsabbruch auf die Website setzen können. Die Frauen kommen gut informiert zu uns in die Sprechstunde. Seit der Anzeige der Abtreibungsgegner im Jahr 2017 ist uns klar geworden, wie schutzbedürftig dieser Bereich um die ungewollte Schwangerschaft ist. Wir engagieren uns seitdem für eine Verbesserung der Versorgung und gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
In Kassel haben wir eine gute Versorgungsstruktur. Durch beide gynäkologische Tageskliniken haben wir bestimmt 20 Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Aber obwohl der Paragraf 219a nun abgeschafft ist, sind wir die einzigen, die darüber auf ihrer Website informieren. Ich finde das unglaublich und besorgniserregend, aber ich habe es auch schon befürchtet.
Woran liegt es, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen weiterhin so zurückhaltend sind?
Viele sind vielleicht noch immer eingeschüchtert aus der Zeit, in der es die Anzeigen durch die Abtreibungsgegner gab. Und obwohl wir jetzt Informationen auf die Website setzen können, ohne strafrechtliche Verfolgung befürchten zu müssen, hält die Einschüchterung und die Befürchtung, Probleme zu bekommen, offensichtlich an. Außerdem hat der Schwangerschaftsabbruch auch immer noch den Stellenwert einer Straftat.
Das ist in vielen Ländern schon anders, wesentlich liberaler, das können wir uns als Vorbild nehmen. Ich bin enttäuscht von so wenig Zivilcourage und Mut meiner hiesigen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Sie trauen sich nicht, darüber zu sprechen, was sie tun. Wir sollten doch Vorbild sein und mit dazu beizutragen, dass Schwangerschaftsabbrüche kein Tabu mehr sind und dass die Betroffenen es nicht mehr als Geheimnis in sich tragen müssen.
Gynäkologin aus Kassel: Betroffene sollen Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr als Geheimnis mit sich tragen
Wie wollen Sie das schaffen?
Ich kann nur dazu aufrufen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen auf ihren Websites über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Das ist zeitgemäß und sehr hilfreich für die Betroffenen. Außerdem es ist einfach wunderbar, wenn die Patientinnen gut informiert sind. Es sind jährlich über 100 000 Frauen in Deutschland, die einen Abbruch durchführen.
Zur Person
Nora Szász ist in Nürnberg geboren und wuchs in Nordhessen auf. Nach dem Abitur an der Herderschule ging sie nach West-Berlin. Dort erlernte sie den Beruf der Hebamme und studierte Medizin. 1986 war sie Mitbegründerin eines von Hebammen geleiteten Geburtshauses in Berlin-Charlottenburg. Sie lebte in Kanada und Österreich, bevor sie 2003 nach Deutschland zurückkehrte und sich nach einigen Klinikjahren als Gynäkologin gemeinsam mit einer Kollegin in Kassel niederließ. Sie ist Mutter eines erwachsenen Sohnes und lebt mit ihrer Familie in Kassel. Hier engagiert sie sich als Ärztin ehrenamtlich in der Humanitären Sprechstunde. 2019 wurde sie für ihren Einsatz für das Informationsrecht von Frauen mit dem Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnet.
Und nur weil darüber geschwiegen wird, wird das auch nicht weniger. Es gibt mittlerweile eine gravierende Unterversorgung auch in vielen Regionen, wo Frauen Probleme haben, einen Ort zu finden, wo ein Abbruch möglich ist. Das ist schlimm.
Warum ist das in Kassel anders?
Obwohl bedauerlicherweise in den beiden Kliniken mit gynäkologischer Abteilung keine Schwangerschaftsabbrüche nach der Beratungsregelung, sondern nur nach medizinischer Indikation durchgeführt werden, gibt es ausreichend Ärztinnen und Ärzte, die diese medizinische Leistung anbieten.
Allerdings sind wir die einzige Praxis in Kassel, neben den Tageskliniken, die Schwangerschaftsabbrüche auch nach der medikamentösen Methode durchführen, nicht nur operativ. Wir machen damit sehr gute Erfahrungen. Die Frauen kommen teilweise aus mehr als 100 Kilometern zu uns.
Gynäkologin aus Kassel veranstaltet Infoabend zum Thema Schwangerschaftsabbruch
Am Montag veranstalten Sie einen Infoabend zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Warum ist es wichtig, dass sich Frauen umfassend informieren können?
Die betroffenen Frauen, die zu uns kommen, googeln vorher im Internet und lesen dann Dinge wie: Man kann verbluten beim Schwangerschaftsabbruch, man wird unfruchtbar, man kann Krebs bekommen, man leidet sein Leben lang an Depressionen. Zu all dem gibt es Studien und wir wissen, dass das alles nicht stimmt. Aber es ist in den Köpfen der Frauen und das macht Angst – und Angst ist nie etwas Gutes.
Wie wollen Sie den Frauen diese Angst nehmen?
Meine Kollegin Natascha Nicklaus und ich wollen am Montagabend mit den Teilnehmenden in einen Austausch kommen. Jede kann all die Fragen stellen, die sie oder er sich noch nie getraut hat zu stellen und ihre Meinung dazu äußern. Wir möchten mit der Veranstaltung dazu beitragen, dass das Tabu um das Thema verschwindet. Immer noch gibt es viel zu viel Verschwiegenheit und Scham.
Also stimmt der Mythos nicht: Frauen werden nicht unfruchtbar vom Schwangerschaftsabbruch?
Eine Frau, die ungewollt schwanger wird, ist fruchtbar. Und das ist die wichtigste Nachricht. Nach dem Abbruch ist zwei Wochen später bereits der nächste Eisprung. Deshalb geht es dann auch immer um Verhütung: Wie kann ich verhindern, wieder schwanger zu werden? Eine Frau, die schwanger war, hat sehr gute Chancen, wieder schwanger zu werden.
Unfruchtbar werden durch einen Schwangerschaftsabbruch, dieser Mythos ist historisch bedingt. Als Schwangerschaftsabbrüche noch illegal gemacht wurden, gab es oft Infektionen danach. Die verursachen schnell Eileiter-Verklebungen und dadurch kann man unfruchtbar werden.
Gynäkologin aus Kassel: Heute sehr niedrige Komplikationsrate bei Abtreibungen
Und heute passiert das nicht mehr?
Heute haben die Schwangerschaftsabbrüche eine sehr niedrige Komplikationsrate – und schon eher gar keine Infektionen. Deshalb passiert das praktisch nicht mehr.
Was ist mit dem Post-Abortion-Syndrom, also anhaltenden Depressionen nach einem Schwangerschaftsabbruch?
Es wird behaupet, das sei der schwerste Moment im Leben einer Frau und sie werde immer wieder auf den Schwangerschaftsabbruch zurückgeworfen. Dies ist schon in Studien widerlegt und aktuell läuft eine großangelegte Studie im Auftrag des Bundesministerium für Gesundheit, die Elsa-Studie, die das untersucht. Die Ergebnisse werden Ende des Jahres erst präsentiert, aber schon jetzt zeigt sich: Wie eine Frau einen Abbruch verkraftet, hat erheblich damit zu tun, wie sie durch die Zeit begleitet wird.
Inwiefern?
Wenn sie keine schlechte Behandlung erleben, wenn sie nicht wie Bittstellerinnen erstmal zig Stellen abklappern müssen, dann kann eine Frau das auch gut verarbeiten. Das ist ein wichtiger präventiver Faktor: nicht nur das „ob“ ist entscheidend, sondern auch das „wie“. Die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch kann eine ganz große Sache im Leben einer Frau sein. Aber der Abbruch selbst ist es technisch nicht. Es ist ein kleiner Eingriff mit einem extrem niedrigen Risiko.
Gynäkologin aus Kassel will „Frauen unterstützen, ihren Weg zu gehen“
Wie geht es jetzt weiter für Sie?
Wir versuchen die Frauen zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen, und hoffen, dass sich die Politik aus der persönlichen Entscheidung raushält. Aber sie soll sich verantwortlich fühlen, dass eine gute Versorgung gesichert ist. Wie dies umzusetzen ist und ob dafür vor allem der Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden sollte – mit diesen Fragen wird sich nun eine Regierungskommission befassen, die kürzlich gebildet wurde. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse, die hoffentlich eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Folge haben. Das wäre ein Erfolg.
Service: Die Veranstaltung findet am Montag, 3. April, ab 17 Uhr im Haus der Sozialwirtschaft, Treppenstraße 4 in Kassel, statt. Die Frauenärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász sowie Lilli Fromm vom AKGG-Beratungszentrum sprechen über Mythen und Wahrheiten bei Schwangerschaftsabbrüchen. (Anna-Laura Weyh)
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