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Schüler fahren zweigleisig -
In und um Kassel besuchen 640 ukrainische Kinder Schulen

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Von: Christina Hein

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Am Kasseler Goethe-Gymnasium gibt es Paten, die Russisch sprechen, und den ukrainischen Schülern helfend zur Seite stehen. Vlad bekommt Unterstützung von seiner Klassenkameradin Anita. Dahinter Lehrerin Carola Schäfer.
Freundlich aufgenommen: Am Goethe-Gymnasium gibt es Paten, die Russisch sprechen, und den ukrainischen Schülern helfend zur Seite stehen. Vlad bekommt Unterstützung von seiner neuen Klassenkameradin Anita. Dahinter Lehrerin Carola Schäfer. © Christina Hein

Am Goethe-Gymnasium Kassel sind 18 ukrainische Schüler in einer Willkommensklasse aufgenommen worden. Daneben nehmen sie am Regelunterricht teil. Außerdem verfolgen sie Unterricht in der Ukraine über das Internet.

Kassel – Noch vor wenigen Wochen sind Bozhena, Kira, Anton und Dmytro in Kiew, Mikolajiw und anderen ukrainischen Städten zur Schule gegangen. Dann kam der russische Angriff und für sie die Flucht – mit den Eltern wie im Fall von Dmytro (14) oder alleine wie bei Bozhena (13), die in Kassel bei einer Tante wohnt. Heute sitzen die Jugendlichen mit deutschen Klassenkameraden auf der Schulbank im Kasseler Goethe-Gymnasium und haben das Landesabitur ebenso im Blick wie die ukrainischen Abschlüsse, für die sie in ihrer Heimat gelernt haben.

Goethe-Gymnasium Kassel, ukrainische Schüler
Goethe-Gymnasium: Die ukrainischen Schüler Dmytro, Anton, Kira und Bozhena auf dem Schulhof. © Hein, Christina

Auf das Goethe-Gymnasium gehen insgesamt 18 Schüler aus der Ukraine. Im Schulamtsbezirk Kassel sind es 640, in Hessen 7100 Kinder und Jugendliche, die auf Schulen aufgenommen wurden. „Die Zahlen ändern sich täglich“, sagt Schulamtsleiterin Annette Knieling. Die Bundesregierung rechnet damit, dass in Deutschland eine Million geflüchtete Ukrainer aufgenommen werden, davon knapp die Hälfte schulpflichtige Kinder.

„Die ukrainischen Schülerinnen und Schüler sollen zunächst den angestrebten ukrainischen Abschluss ablegen. Wenn sie ausreichend Deutsch können, können sie zum deutschen Abschluss geführt beziehungsweise in die gymnasiale Oberstufe aufgenommen werden“, sagt Knieling. Kultusminister Alexander Lorz erklärt: „Anders als bei der vorigen Flüchtlingswelle geht es jetzt darum, für die Schüler einen Mittelweg zu finden: einerseits Deutschförderung und Integration in unser Schulsystem und andererseits die Fortführung eines Teils des bisherigen Schullebens.“ Ergänzend zum System der Intensivklassen sollen die Geflüchteten mit einem freiwilligen Sprach- und Kulturunterricht in ukrainischer Sprache darin unterstützt werden, den Bezug zum ukrainischen Unterricht nicht zu verlieren.
Über 400 Pädagogen – zur Hälfte Ukrainer und Deutsche, etwa Pensionäre – haben sich bis jetzt im Kultusministerium gemeldet und ihre Mitarbeit angeboten. Entsprechende Verträge werden zurzeit abgeschlossen, so ein Sprecher. Die Mittel würden aus dem Haushalt bereitgestellt.

Der elfjährige Vlad ist erst vor einer Woche nach Kassel gekommen und befindet sich schon mittendrin in seinem neuen Leben. Mit seiner Mutter war er aus der bombardierten Stadt Charkiw geflohen. Sein inständiger Wunsch: dass sich bald auch die Großeltern retten können.

Mit gleichaltrigen Kasseler Kindern sitzt Vlad in der Klasse 5d im Goethe-Gymnasium II und lernt unter anderem Mathe, sein Lieblingsfach, und natürlich Deutsch: Personalpronomen und einfache Vokabeln des täglichen Gebrauchs wie Tisch, Schere, Buch. Lev, David und Wowa, ebenfalls aus der Ukraine, waren schon vor ihm in der Klasse. Es ist beeindruckend, wie sich alle Mühe geben, schon Deutsch zu sprechen.

Klassenlehrerin Carola Schäfer, eine Fachkraft für Deutsch als Zweitsprache, nimmt mit den deutschen Kindern Rechtschreibphänomene durch; parallel dazu kümmert sie sich um die ukrainischen Kinder.

Die Jungen haben das Glück, dass es in ihrer Klasse Maria und Anita gibt, Schülerpatinnen, die Russisch sprechen und ihnen zur Seite stehen. „Wir haben überwältigende Reaktionen von unseren russischsprachigen Schülern erhalten“, sagt Schulleiter Joachim Bollmann: „Es wollten so viele helfen, dass wir sogar ukrainische Schüler mit zwei Paten haben.“

Für die Schulgemeinde stand früh fest, „kurz nachdem abzusehen war, dass durch den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine viele Familien auf der Flucht sein werden“, dass sie unbürokratisch Schüler aufnehmen und eine Wilkommensklasse bilden wollen. Als „Solidarbeitrag“, so Bollmann, aber auch, weil die Schule über große Expertise verfüge. „Schon 2017/2018 haben wir mit einer Willkommensklasse für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan Erfahrungen gesammelt, auf die wir zurückgreifen können.“ Viele Lehrkräfte haben umfangreiche Qualifikationen im Fach „Deutsch als zweite Fremdsprache“. Vor allem, so Bollmann: „Die Goethe-Schüler begegnen Gästen sehr offen, sodass die Kinder aus der Ukraine einen guten Start haben werden.“ Und so hat die Schule im Wesertor als einziges Gymnasium in Kassel eine Willkommensklasse eingerichtet, in der 18 Ukrainerinnen und Ukrainer im Alter von elf bis fünfzehn Jahren lernen. Parallel zum Unterricht in ihren Klassen bekommen sie pro Woche zwölf Stunden Deutschunterricht. Noch eine Besonderheit macht ukrainischen Schülern das Lernen leicht: Da viele gut Englisch sprechen, können sie problemlos Fachunterricht in den bilingualen Klassen erhalten. Das Goethe-Gymnasium hat als einzige Schule in Hessen einen bilingualen Schulzweig von Klasse 5 bis zum Abitur.

Bozhena (14) aus Kiew besucht mit elf weiteren ukrainischen Kindern die Bili-Klasse und ist begeistert. Weil sie ohne ihre Eltern gekommen ist, telefoniert sie täglich mit ihrer Familie in der Ukraine, erzählt von ihrer tollen neuen Schule. Nachmittags steht sie per Internet in Kontakt mit ihren ukrainischen Lehrern und alten Mitschülern, die inzwischen in aller Welt verstreut sind, und lernt für ihre ukrainischen Prüfungen.

Wie ein normaler, aufgeweckter Teenager wirkt Bozhena, wenn sie so lebendig redet – würde sie nicht davon sprechen, wie sie sich um ihren Bruder sorgt, der zum Militär einberufen wurde und dass sie sehr unter dem Erlebten leidet. „Helikopter machen mir Angst“ sagt sie, „wenn ich einen höre, bekomme ich Panik. Dann muss ich mir immer sagen: Du bist doch in Deutschland, in Sicherheit.“

Hintergrund

Im Bezirk des Staatlichen Schulamts für den Landkreis und die Stadt Kassel gingen Ende April 99 ukrainische Kinder auf Grundschulen in der Stadt, und 143 Kinder waren es im Landkreis Kassel. Die Sekundarstufe1 besuchen 136 in Kassel und 189 im Landkreis; 22 Schüler gehen auf Gymnasien. Zusammen mit den 51 Jugendlichen, die auf Berufsschulen gehen, besuchen insgesamt 640 ukrainische Schüler Schulen in der Stadt und im Landkreis Kassel.

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