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In Bettenhausen spielt wieder die Musik

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Von: Matthias Lohr

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Leeres Industriedenkmal: In der ehemaligen Salzmannfabrik organisierte Oliver Leuer von der Kulturfabrik viele Veranstaltungen.
Leeres Industriedenkmal: In der ehemaligen Salzmannfabrik organisierte Oliver Leuer von der Kulturfabrik viele Veranstaltungen. © Matthias Lohr

Die documenta fifteen findet auch im Kasseler Osten statt. In einer Serie beleuchten wir die vier Stadtteile östlich der Fulda, die nun in den Fokus rücken – heute: Bettenhausen.

Kassel – Industrie und Kultur, viel Verkehr und grüne Idylle – in kaum einem Kasseler Stadtteil sind die Gegensätze so groß wie in Bettenhausen. Was macht den östlichsten Teil der Stadt aus? Eine Spurensuche.

Der Blick von außen

Kaum jemand, der nicht in Bettenhausen lebt, kennt den Stadtteil so gut wie Oliver Leuer. Der 59-Jährige ist der Kopf der Kulturfabrik Salzmann. In der einstigen Fabrik an der Sandershäuser Straße organisierte Leuer jahrelang Konzerte, Theaterveranstaltungen und Lesungen. Schon als Teenager probte er mit seiner Band in den Räumen neben dem Hallenbad Ost. Seitdem sein Team 2013 vom Salzmann-Gelände „vertrieben wurde“, wie Leuer es nennt, lockt es das Publikum in die Ersatzspielstätte am Kupferhammer am anderen Rand des ehemaligen Dorfes. Und hin und wieder musiziert das Multitalent mit Flüchtlingen im Sandershaus, dem ehemaligen Verwaltungsgebäude der Haferkakaofabrik.

Leuer lebt im Vorderen Westen und ist doch ein Teil von Bettenhausen. Wenn man ihn fragt, was das Besondere am Stadtteil ist, antwortet er poetisch und mit einem Augenzwinkern: „Hier im Osten geht die Sonne früher auf. Und wenn sie am Brasselsberg schon untergegangen ist, scheint sie hier immer noch.“

Die Industrie

Früher konnte man Bettenhausen in ganz Kassel riechen. Kam der Wind von Osten, trieb er die Abgase der Fabriken über die Stadt. Auch heute gibt es hier viel Industrie und Gewerbe. 30 Prozent der Kasseler Gewerbesteuer werden in den vier östlichen Stadtteilen generiert – auch in Bettenhausen.

Zugleich ist es immer noch ein Stadtteil im Umbruch. Nur in Rothenditmold, Nord-Holland und Wesertor ist die Arbeitslosenquote höher. Die größte Brache ist die Salzmannfabrik, die längst zu einem modernen Ort für Wohnungen, Büros und Kultur umgebaut werden sollte. Doch nach zahllosen Ankündigungen von Investor Dennis Rossing hat sich immer noch nichts getan. Viele Bettenhäuser reagieren auf die unendliche Geschichte von Salzmann nur noch mit Galgenhumor.

Gleich nebenan riecht Bettenhausen übrigens auch noch heute. Wenn die Straßenbaufirma Hermann Riede Teer kocht, atmet man den Duft ein, der nicht nur für die Vergangenheit steht, sondern auch für Veränderung und Zukunft.

Die Dorfidylle

Wer gleich hinter der Straßenbaufirma von der Sandershäuser Straße nach Südosten abbiegt, ist in einer anderen Welt. Die Entdeckerroute führt an der idyllischen Losse entlang. Unweit des Ufers stehen umgebaute Bauernhöfe und moderne Einfamilienhäuser. Es gibt sogar einen Mühlenwanderweg, um die Zeugnisse von gestern zu entdecken.

Der vor einigen Jahren umgebaute Dorfplatz liegt unweit der viel befahrenen Leipziger Straße. Er ist so beliebt, dass es im Sommer oft Ärger gibt. Vor allem bulgarische Familien feiern hier bis tief in die Nacht. Viele Anwohner fühlen sich belästigt. Auch in der Idylle kann es Multikulti-Probleme einer Großstadt geben.

Der Grünen-Politiker Alfons Fleer wohnt gleich um die Ecke. Auf einem Wiesengrundstück an der Losse will er aus einem ehemaligen Kiosk einen Ort der Kultur machen und Artists in Residence einladen. Die documenta wird das Hallenbad Ost und das Hübner-Gelände bespielen. Aber auch nach diesem Sommer soll die Kunst in Bettenhausen zuhause sein, findet Fleer: in seinem Garten.

Der Herkules

Von vielen Orten des Stadtteils kann man den hohen Schornstein von Salzmann sehen. Für Bettenhausen ist er das, was der Herkules für die Stadt ist. Wobei das Kasseler Wahrzeichen ja auch ein Bettenhäuser Junge ist. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die Figur, die heute hoch oben über der Stadt thront, im Messinghof an der heutigen Leipziger Straße hergestellt.

Und auch Sportgeschichte wurde in Bettenhausen geschrieben. Auf einer Tafel an der Losse erfährt man, dass der Sportverein Kurhessen, ein Vorläufer des heutigen KSV Hessen, 1895 in der Traditionsgaststätte „Insel Helgoland“ gegründet wurde. Was wäre Kassel ohne Bettenhausen?

Die Eichwaldsiedlung

Auch beim Wohnen war Bettenhausen Vorreiter. Am Eichwald entstand bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine der ersten Gartenstadtsiedlungen Deutschlands. Arbeiter sollten hier im Grünen leben können. Dieses Siedlungskonzept war eine Antwort auf die oft prekären Lebensverhältnisse von Arbeitern anderswo. Noch heute ist der Eichwald eine beliebte Wohngegend.

Die Kultur

In den 1990ern lief Bettenhausen sogar Berlin den Rang ab. Das Aufschwung Ost (später Stammheim) galt damals als bester Techno-Club Deutschlands. Selbst aus der Hauptstadt reisten die Raver am Wochenende auf das Salzmann-Gelände, wo die Nächte durchgetanzt wurden. Auch Spot und Da Jam lockten damals in den Osten. Heute gibt es in Bettenhausen noch das Graf Karl und mit dem Musikpark A 7 Kassels einzige Großraum-Disco.

Und mit dem ehemaligen Bunker in der Agathofstraße entsteht ein neuer Kultur-Hotspot, wie es neuerdings gern heißt. Hier zieht nicht nur Leuers Team von der Kulturfabrik Salzmann ein, sondern auch der Verein Klangkeller, der etwa Proberäume für Bands zur Verfügung stellt. Noch wird der Bunker aufwendig umgebaut. Aber ein großes Schild deutet schon an, dass die Zukunft Bettenhausens gut wird. „Kassel Ost – Hier spielt die Musik“, steht darauf. (Matthias Lohr)

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