1. Startseite
  2. Kassel

Putins Krieg in der Ukraine: „Hoffnung war realitätsfern“

Erstellt:

Von: Christina Hein

Kommentare

Vor acht Jahren, am 7. März 2014, veröffentlichten wir ein HNA-Gespräch zwischen der Ukrainerin Halyna Semenyshyn, heute Wichmann, (links) und dem Russen Pavel Gorbachev; rechts HNA-Redakteurin Christina Hein.
Vor acht Jahren, am 7. März 2014, veröffentlichten wir ein HNA-Gespräch zwischen der Ukrainerin Halyna Semenyshyn, heute Wichmann, (links) und dem Russen Pavel Gorbachev; rechts HNA-Redakteurin Christina Hein. Grafik: HNA © Lothar Koch

Im Jahr 2014 führten wir ein Gespräch mit der Politiologin Halyna Wichmann über die Situation in der Ukraine. Acht Jahre später sprachen wir erneut mit ihr über den Angriff Putins auf ihr Heimatland.

Kassel. Vor dem Hintergrund der ersten Militäraktionen Putins in der Ukraine 2014 sowohl auf der Krim als auch in der Ostukraine – aus heutiger Sicht Putins Vorbereitung auf seinen Krieg – hatten wir vor acht Jahren ein Gespräch geführt: mit der Ukrainerin Halyna Semenyshyn und dem Russen Pavel Gorbachev, seinerzeit Studierende in Kassel.

Jetzt trafen wir Halyna, die inzwischen geheiratet hat und Wichmann heißt, bei den Demonstrationen für die Ukraine wieder und baten sie erneut zu einem Gespräch.

Wir hatten Halyna Wichmann damals gefragt, ob sie Putins Äußerung ängstige, dass er einen militärischen Einsatz in der Ukraine für nicht notwendig halte, er sich aber „eine humanitäre Mission“ vorbehalte.

Sie antworteten damals: Angst vor einem Krieg? Nein, das kann nicht sein. Aber Angst vor einer Spaltung des Landes habe ich.

Wie bewerten Sie Ihre Aussage heute?

Putins Annexion der Krim verlief noch ohne viele Menschenopfer, aber kurz nach unserem Interview, im Sommer 2014, war schon richtiger Krieg in der Ostukraine mit schweren Verlusten und ich dachte: Wie naiv war ich, dass ich dachte, es könnte eine friedliche Lösung geben. Meine Hoffnung war realitätsfern. Putin hatte sich acht Jahre lang auf den größeren Krieg vorbereitet, und davon lässt er sich nicht mehr abhalten, von keiner Diplomatie. Der russische Angriff auf Georgien 2008, die Kriegsführung in Syrien, davor Tschetschenien: Vor all diesen Angriffen hat der Westen die Augen verschlossen. Das Ausmaß der wirtschaftlichen Sanktionen der USA und der EU seit 2014 sind nicht hart genug gewesen. Putin war entfesselt und dachte: Der Westen tut mir nichts, er hat Angst vor mir.

Was hat Putin vor?

Ich glaube, dass es sein Trauma ist, dass die Sowjetunion alle Republiken verloren hat. Die Visegrád-Staaten Rumänien, Bulgarien und die baltischen Staaten sind in der Nato, und auch die Ukraine entwickelt sich demokratisch und blickt Richtung Westen. Das passt Putin nicht. Wo er kann, werden Demokratiebewegungen unterdrückt, etwa in Kasachstan. Putin will verhindern, dass die Ukraine ein Vorbild im postsowjetischen Raum wird. Viele sagen, Putin sei krank im Kopf, aber ich glaube, er ist sehr wohl bei Verstand. Er hat sich nur verkalkuliert, weil er dachte, er könne die Ukraine in drei Tagen erobern.

Mit den Reaktionen hat er nicht gerechnet?

Nein, weder mit der Wehrhaftigkeit der Ukrainer, noch damit, dass sich der Westen engagiert. Die Gefahr, die von Putin ausgeht, ist damit nicht kleiner geworden.

Ihr Gesprächspartner sagte 2014: Das russische Militär sorgt für Ruhe und Sicherheit. Sie erwiderten: Das sehe ich anders. Warum, glauben Sie, verfechten die meisten Russen die Ansicht einer friedlichen Sonderaktion?

In Russland läuft die Propagandamaschine sehr stark. Inzwischen sind alle unabhängigen Sender abgeschaltet. Alle sehen nur noch das Staatsfernsehen. Das ist Gehirnwäsche. Viele glauben selbst den Berichten ihrer Verwandten in der Ukraine nicht. Die Russen finden, dass Putin alles richtig macht und die Ukraine „entnazifiziert“ werden muss. Sie verhalten sich passiv und wollen einen starken Mann an der Spitze, so wie einen Zaren. Es gab ein paar Tausend, die in Russland protestiert haben, aber die haben sofort starke Repressionen erfahren. Aber was sind schon ein paar Tausend gegen ein 144-Millionen-Volk?

Die in Kassel lebende ukrainische Politologin Halyna Wichmann engagiert sich vielfältig.
In Sorge um ihr Heimatland: Die in Kassel lebende Ukrainerin Halyna Wichmann engagiert sich vielfältig © Andreas Fischer

Aber zur Macht der Bilder und der Sprache möchte ich sagen, dass es mich ärgert, wenn von Konflikt und Krieg gesprochen wird. Welcher Konflikt denn? Wir haben nichts gemacht. Wir führen keinen Krieg, sondern verteidigen uns nur. Das ist der Angriffskrieg eines mächtigen Aggressors, ein russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nichts anderes.

Setzen Sie gar keine Hoffnung in die russische Bevölkerung, dass sie Putins Aggression erkennt?

Ich glaube, dass einige aufwachen, wenn Särge mit Soldaten zurückkommen. Nach ukrainischen Angaben gibt es auf russischer Seite schon jetzt 12 000 Tote. Aber auch die wirtschaftlichen Sanktionen werden wirken. Vielleicht werden dann einige Putins Angriff hinterfragen.

Wer also kann Putin stoppen und wie?

Irgendwie gibt es die Hoffnung, dass es Menschen gibt, die ihm nahe stehen und zu ihm durchdringen. Aber ich weiß es nicht. Macron und Bennet haben ja schon vergeblich versucht, Einfluss zu nehmen. Aber: Putin hat den starken Widerstand der Ukrainer unterschätzt, Zivilbevölkerung und Armee kämpfen gleichermaßen. Das ist bewundernswert, das ganze Land kämpft. Es wird für Putin schwer zu gewinnen.

Aber wir sehen auch die Gefahr, dass Einheiten aus Belarus oder aus Transnistrien einfallen. Sie kommen von allen Seiten und zerstören mit Raketen ganze Wohnviertel. In meiner Heimatstadt im Westen der Ukraine haben Russen den Flughafen zerstört.

Wie ergeht es denn ihrer Familie in der Ukraine?

Meine Eltern leben in einem kleinen Dorf im Westen und wollen dortbleiben, ebenso wie meine Schwester, meine Tanten und Onkel. Da ist es relativ ruhig. Deshalb flüchten viele Menschen in den Westen der Ukraine. Von dort gehen viele auf die Flucht nach Polen weiter. Wir telefonieren viel, und auch das Internet funktioniert. Man kann zum Glück kommunizieren.

Wie sieht Ihr Engagement hier in Deutschland aus?

Ich engagiere mich vielfältig. Täglich um 18 Uhr treffen sich ukrainisch stämmige Menschen und Geflüchtete auf dem Königsplatz: um Hilfen zu organisieren und zu koordinieren. Wir wollen jetzt dafür einen Verein gründen. Über Internetplattformen stellen sich Kasseler Ukrainer als Übersetzer und Begleiter etwa bei Behördengängen zur Verfügung. Zusammen sortieren und packen wir Hilfsgüter. Was ich eindrucksvoll finde: Die Geflüchteten bringen sich – kaum sind sie hier – als Helfer ein. Was mich ebenso freut, ist, dass mir Kommilitonen aus der ganzen Welt, auch aus Russland und Belarus, Hilfe anbieten. Diese große Solidarität, die wir hier gerade erfahren, gibt uns Kraft.

Zur Person

Halyna Wichmann (36) ist in Wyhoda, West-Ukraine, geboren. Sie hat in Iwano-Frankiwsk „Management für Außenwirtschaftstätigkeit“ studiert. Nach einem USA-Aufenthalt hat sie ihren englischsprachigen Bachelor abgelegt. 2008 machte sie in Kassel ihren Master in „Globaler politischer Ökonomie“. Mit einem Stipendium der Stiftung der Deutschen Wirtschaft promoviert sie in Politikwissenschaften. Halyna Wichmann arbeitet bei der Bundesagentur für Arbeit in Göttingen. Mit ihrem Ehemann wohnt sie in Kassel.

Auch interessant

Kommentare