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Das erste Selfie-Video der Welt kommt aus Kassel

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Von: Bastian Ludwig

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Er zog die Blicke auf sich: Adolf Winkelmann im Dezember 1967 auf der Kasseler Königsstraße – hier in Höhe des Opernplatzes mit seiner selbst entwickelten Selfie-Apparatur.
Er zog die Blicke auf sich: Adolf Winkelmann im Dezember 1967 auf der Kasseler Königsstraße – hier in Höhe des Opernplatzes mit seiner selbst entwickelten Selfie-Apparatur. © Winkelmann

Das weltweit erste Selfie-Video ist in Kassel entstanden: Ein Filmregisseur drehte es im Jahr 1967 auf der Königsstraße. Es verhalf ihm zum Durchbruch.

Der Filmregisseur und ehemalige Kasseler Student Adolf Winkelmann hat am 9. Dezember 1967 in Kassel Geschichte geschrieben. Er filmte sich damals selbst, wie er über die Königsstraße flanierte und Bratwurst aß. Mit dem Acht-Minuten-Werk schuf er das weltweit erste Selfie-Video, lange bevor es Mobiltelefone gab. Wir sprachen mit Winkelmann über die damaligen Ereignisse und seinen heutigen Blick darauf.

Herr Winkelmann, Sie haben in Kassel Mediengeschichte geschrieben. Was verschlug Sie in die Stadt?

Ich kam 1965 zum Studium an die Kasseler Werkkunstschule. Im vierten Semester bekamen wir es mit Fotografie und Drucktechniken zu tun. Da gab es einen neuen Dozenten, Floris Michael Neusüss. Der Fotograf und Fotokünstler war für mich die wichtigste Person im Studium. Tag und Nacht hat unsere Klasse, die aus vier bis fünf Studenten bestand, in der Hochschule verbracht, im Atelier und in der Dunkelkammer gearbeitet. Ich studierte zwar Fotografie, träumte aber immer von Bildern, die sich bewegen.

Wie kam es zu dem Film auf der Königsstraße, der als Geburtsstunde des Selfie-Videos gilt?

Neusüss brachte eines Tages einen Vertreter des Kameraherstellers Bolex in die Hochschule mit. In einem zweitägigen Workshop hat der uns die Technik erklärt. Ich habe den Vertreter gefragt, ob ich eine Kamera über das Wochenende mit nach Hause nehmen könnte. Ich wollte selbst filmen, und das war der einzige Weg, an eine 16-Millimeter-Kamera zu kommen. Die Bolex war eine Federwerk-Kamera. Das heißt, man musste sie alle 30 Sekunden mit einer Kurbel aufziehen, damit sie lief. Dafür war sie vergleichsweise leicht, was ich mir für mein Experiment zunutze machte.

Kassel: Filmstudent macht „vollständig alles falsch“

Was steckte hinter dem Experiment?

Es gab damals unter uns Studenten strenge Diskussionen darüber, wie man sich als Künstler verhalten darf. Die Maoisten sagten: Die Kamera vermittelt dem Zuschauer deinen Standpunkt. Wer die Kamera bewegt, hat keinen Standpunkt. Das ist eine Klassenfrage. Mich hat das total genervt. Ich sagte mir: Wie wäre es denn, wenn ich mal alles vollständig falsch machte – also auch konträr zur damaligen Auffassung, wie Fernsehen funktioniert?

Wie sah die filmische Konvention seinerzeit aus?

Das ist über 50 Jahre her und das Medium war noch in den Kinderschuhen. Die Kameras standen fest auf Stativen und nahmen eine statische Welt auf, durch die sich Menschen bewegten. Ich wollte in meinem Experiment die Kamera fest mit einem Menschen verbinden und die Welt sich auf der Leinwand um den Protagonisten herum bewegen lassen. Was heute selbstverständlich ist, war damals völlig neu.

Wie haben Sie das bewerkstelligt?

Dafür musste ich einiges erledigen: Eine leichte Kamera hatte ich ja nun. Zum Glück gab es für die Bolex einen externen Elektromotor, den man ankoppeln konnte. So musste ich sie nicht mehr permanent aufziehen. Anschließend packte ich die Kamera auf ein Stativ, zog zwei Beine des Stativs heraus und klemmte sie mir unter die Achseln. Mit dem dritten, kurzen Bein stach ich mir gegen den Bauchnabel. Weil das wehtat, steckte ich mir ein Frühstücksbrett in den Hosenbund. So war der Druck auszuhalten. Nun hatte ich aber noch keine Möglichkeit zu sehen, was die Kamera aufnimmt. Also besorgte ich mir beim Autozubehörhandel einen Innenrückspiegel, den ich an die Apparatur montierte. So konnte ich sehen, was hinter mir passierte.

Zur Person

Prof. Adolf Winkelmann (75) ist Filmemacher, Regisseur, Autor und Erfinder. Der gebürtige Sauerländer ist in Dortmund aufgewachsen, wo er heute lebt. 1965 kam er zum Kunststudium nach Kassel. Viele seiner Kino- und Fernsehfilme (u.a. „Contergan“) wurden ausgezeichnet. Er war seit 1972 mit der aus Kassel stammenden 68er-Ikone Jutta Winkelmann (1949-2017) verheiratet.

Filmstudent in Kassel zieht Aufmerksamkeit auf sich

Wie waren die Reaktionen der Passanten auf Ihre Dreharbeiten?

Als ich auf der vorweihnachtlichen Königsstraße unterwegs war, langhaarig, komisch bebrillt, ungewöhnlich mit Geräten bestückt, merkte ich schnell, wie sehr ich die Aufmerksamkeit der Passanten auf mich zog. Die Leute waren damals noch nicht so viel gewöhnt wie wir heute. Ich wurde begafft und belächelt und habe natürlich darauf geachtet, möglichst viele Reaktionen aufs Bild zu kriegen.

Haben Sie damals schon gewusst, dass Sie etwas Wegweisendes machen?

Nein, das war mir nicht bewusst. Ich war einfach nur versessen, das machen zu müssen. Ich war fasziniert vom Film, von dem was passiert zwischen Zuschauer und Leinwand und vom Verhältnis zwischen Medium und Realität.

Auch die Bratwurst spielt eine Rolle: In dem acht Minuten langen Film sieht man Winkelmann Wurst essen.
Auch die Bratwurst spielt eine Rolle: In dem acht Minuten langen Film sieht man Winkelmann Wurst essen. © Winkelmann

Wieso der schlichte Titel „adolf winkelmann, kassel 9.12.1967 11h54“?

Wir Künstler waren streng mit uns, mochten keine romantischen Verzierungen. Da lag der Titel auf der Hand: Wer, wo und wann.

Das Video: zu.hna.de/winkel

Selfie-Film aus Kassel verhilft Adolf Winkelmann zum Durchbruch

Und wie kam das filmische Ergebnis an?

Ich habe den Film das erste Mal Anfang 1968 auf der Hamburger Filmschau gezeigt – ein Underground-Filmfest. Die Filme wanderten durch alle großen Kinos der Stadt. Was ich nicht bedacht hatte, war der PR-Effekt meines Films. Wenn ich nach den Vorstellungen das Kino verließ, kannten mich plötzlich alle. Das galt auch für die anwesenden Fernsehredakteure. So lief der Film schon bald im Kurzfilmprogramm der Sender.

Das heißt, der Film verhalf Ihnen zum Durchbruch?

Ja, er war der Türöffner für meine Karriere. Plötzlich kamen weitere Angebote vom WDR. Ich hatte für den Kasseler Film vielleicht 300 DM in Filmmaterial und Entwicklung investiert und er hat das zigfache der Summe eingespielt. Im Verhältnis zu den Produktionskosten war nie wieder ein anderer meiner Filme so lukrativ.

Wie lange lebten Sie in Kassel?

1970 zog ich aus Kassel weg. Die Werkkunstschule habe ich ohne Abschluss verlassen. Ich hatte zu viel mit meinen Filmen zu tun. Erst 1975 kam ich zurück. Ich meldete mich bei Harry Kramer, der Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Kassel geworden war. Ich sagte ihm, dass ich ein Diplom brauche, weil ich eine Professur an der FH-Dortmund bekommen sollte. Arbeitsproben brauchte Kramer nicht. Der kannte mein Werk. Ich hatte damals die bekanntesten Filme an der Hochschule geschaffen. Heute ist mein Verhältnis zu Kassel schwach ausgeprägt. Zur documenta und zum Dokfest bin ich aber häufig da. (Bastian Ludwig)

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