Interview: IHK-Präsident Jörg-Ludwig Jordan fordert Bürokratieabbau

Am Mittwochabend lädt die IHK Kassel-Marburg zu ihrem Jahresempfang nach Kassel ein. Wir sprachen vorab mit dem IHK-Präsidenten Jörg-Ludwig Jordan über seine Forderungen an die Politik.
Kassel – Als Gast des IHK-Jahresempfangs steht auch Hessens Ministerpräsident Boris Rhein auf der Rednerliste. IHK-Präsident Jörg-Ludwig Jordan hat einige wichtige Forderungen an ihn. In unserer Zeitung verrät Jordan, wo er in der Wirtschaftspolitik in Hessen dringend Handlungsbedarf sieht.
Am Mittwochabend kommt Ministerpräsident Boris Rhein zum Jahresempfang der IHK nach Kassel. Was werden Sie ihm sagen?
Auf jeden Fall werde ich verdeutlichen, was für eine große Rolle Kassel, Nordhessen und die Region Marburg für Hessen und darüber hinaus bedeuten. Wir sind ja die flächenmäßig größte IHK in Hessen und mit zahlreichen Unternehmen ein echter Wirtschaftsmotor. Damit das so bleibt, sind drei Themen von besonderer Bedeutung: Fachkräftesicherung, Bürokratieabbau und Energieversorgung. Das werde ich heute Abend sehr konkret herausstellen. Die überbordende Bürokratie ist wie ein Webfehler mit rotem Faden, der sich durch viele Bereiche zieht. Wir haben uns über die Jahre zu viele Barrieren, zu viele Regelwerke aufgebaut, Genehmigungsprozesse dauern generell zu lange.
Geben Sie uns ein Beispiel.
Ein Beispiel ist der Arbeitsmarkt. Durch den demografischen Wandel werden laut des aktuellen Fachkräftereports der IHK-Organisation bundesweit in den nächsten Jahren pro Jahr mindestens 400.000 Arbeitskräfte fehlen. Das bedeutet, dass wir mit weniger Personal die gleiche Leistung schaffen müssen. Tatsächlich aber schaffen wir immer mehr Regulierungen, die in den öffentlichen Verwaltungen umgesetzt werden. Dazu braucht es Fachkräfte, um die die öffentliche Hand und Unternehmen im Wettbewerb stehen. Wir müssen dringend Ernst machen mit Entbürokratisierung und Digitalisierung in den Verwaltungen. Ich bin überzeugt: Mehr Digitalisierung in den Behörden und weniger Regulierungen insgesamt würden letztlich auf die Fachkräftesicherung in den Unternehmen einzahlen.
Aber die Regelwerke sind doch auch nötig, weil die Welt immer komplexer wird. Sind dann nicht auch kompliziertere Regeln die logische Folge?
Schauen wir mal in die Praxis: Ich baue für meine Firma eine Niederlassung im Raum Hannover. Die Planungszeit mit allen Genehmigungen dauerte vier Jahre, involviert waren 35 Behörden. Das ist schon heftig. Ein Unternehmerkollege berichtete mir, dass er für einen Erweiterungsbau seiner Firma in unserem IHK-Bezirk einen Bauantrag abgegeben hat. 1064 Seiten in sechsfacher Ausfertigung. Er hat die Unterlagen mit einem Kleinbus zum Regierungspräsidium gebracht. Das muss in Zukunft einfacher gehen. Rund 285 Millionen Euro schwer ist laut Statistischem Bundesamt die Belastung, die deutsche Unternehmen jährlich aufgrund von Statistikmeldungen schultern müssen. Die Bürokratiekosten für die Wirtschaft insgesamt werden nach Auskunft des Bundestages auf 51 Milliarden Euro jährlich geschätzt. 2022 gab es bei uns 1773 Bundesgesetze mit 50.738 Paragrafen und 2795 Bundesrechtsverordnungen mit 42.590 Paragrafen. Für das Gastgewerbe hat die IHK-Organisation ausgerechnet, dass ein Gastronom im Schnitt 14 Stunden pro Woche allein für die Erfüllung bürokratischer Tätigkeiten aufwenden muss. Ein umfassender Bürokratieabbau wäre das beste Konjunkturpaket.
In Deutschland ist die Einzelfallgerechtigkeit ein hohes Gut. Daraus folgen zig Vorschriften, Paragrafen und Zusatzregelungen. Was wäre denn die Alternative?
Das Streben nach größtmöglicher Einzelfallgerechtigkeit wird bei vielen Gesetzen immer mehr zum Problem. Das verhindert pragmatische Lösungen, bindet Personal und beschäftigt oftmals Gerichte. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis: Bei der 300-Euro-Energiepreispauschale fällt eine Rentenbesteuerung nach unterschiedlichen Jahrgängen an – ein enormer Aufwand für 300 Euro. Andere Beispiele sind: Windräder, Solaranlagen und Mobilfunkmasten sind meist für die Verwendung mehrfach erfolgreich überprüft worden. Daher sehe ich nicht die Notwendigkeit komplexer Einzelgenehmigungen. Eine einmal erteilte Betriebserlaubnis sollte für alle Produkte gleicher Bauart dauerhaft gelten – ist ja bei der Zulassung eines Autos auch so.
Ganz konkret: Wie bauen wir denn Überregulierungen ab?
Bürokratie entsteht nicht unbedingt in den Städten, Kommunen und Landkreisen. Aus Gesprächen mit Bürgermeistern und Landräten weiß ich, dass sie sich selbst auch weniger Bürokratie wünschen. Wir müssen auf Landesebene ansetzen. Ich schlage heute Abend die Einrichtung einer Clearingstelle Mittelstand beim Hessischen Industrie- und Handelskammertag vor. Sie überprüft geplante mittelstandsrelevante Gesetze und Verordnungen auf ihre Verträglichkeit für Unternehmen. Mittels einer solchen Stelle – wie es sie übrigens erfolgreich in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bereits gibt – kann die Wirtschaft frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden, damit Regelungen effektiver, praxisnäher und moderner gestaltet werden. Eine solche Stelle sollte über ein Initiativrecht verfügen, das es ihr erlaubt, sich bei allen Gesetzesvorhaben mit Relevanz für den Mittelstand in das Verfahren einzubringen.
Alle träumen vom schlanken Staat. Wie sieht er denn aus?
Wir können beim Thema schlanker Staat von Dänemark oder den Niederlanden lernen. Dort gilt das gleiche EU-Recht, aber die Verfahren sind deutlich effektiver. Die Betroffenen eines Infrastrukturprojekts werden zum Beispiel möglichst frühzeitig und umfassend an der Planung beteiligt. Diese Beteiligung erfolgt einmalig und mehrfach auf unterschiedlichen Ebenen. Wir können, wenn wir wollen: Die LNG-Terminals wurden in nur zehn Monaten gebaut. Das letzte große Infrastruktur-Projekt zur Deutschen Einheit, die A 44 von Kassel nach Eisenach hingegen ist 33 Jahre später immer noch nicht abgeschlossen. Die Folge: Milliarden von Zusatzkosten für die öffentlichen Verwaltungen und für den Güterverkehr auf dieser Strecke und Millionen Tonnen zusätzlicher CO2 Emissionen wegen der langen Umwege.
Also: Ihre Forderung an den Ministerpräsidenten?
Regeln Sie die Dinge so, dass wir vorankommen und setzen Sie auch wieder auf mehr eigenverantwortliche Entscheidungen in den Behörden. Dass ein Ziel das demokratisch legitimiert, gewünscht und gefordert ist, auch in einer zumutbaren Zeit erreicht werden kann. Zum Schluss noch ein Beispiel: Jeder Betrieb sucht händeringend Arbeitskräfte. Warum kann ein Interessierter in Afrika nicht einfach auf eine Internetseite der Agentur für Arbeit gehen, sich eine der vielen offenen Stellen aussuchen und nicht einfach auf „Visum beantragen“ klicken? Das wird, nachdem alle Daten über ihn vorliegen, bearbeitet und ist nach 14 Tagen fertig. Warum dauert das bei uns ein Jahr? Das wäre ein erster Schritt zu einer Lösung des Arbeitskräftemangels, hier könnte man zum Beispiel auch von Kanada lernen. Wozu benötigen wir eine Einwanderungsbehörde wo doch die Agentur für Arbeit flächendeckend mit hoher Kompetenz vorhanden ist und mit dieser Aufgabe betraut werden könnte?
Zur Person Jörg-Ludwig Jordan
Jörg-Ludwig Jordan ist Präsident der Industrie- und Handelskammer Kassel-Marburg. Der 62-Jährige ist in dritter Generation Chef des seit 1919 in Kassel beheimateten Holzhandels W. & L. Jordan GmbH mit zirka 1600 Mitarbeitern. Der Diplom-Betriebswirt, der an der European Business School in Oestrich-Winkel sowie in Großbritannien und Frankreich studiert hat, wuchs in Kassel auf, besuchte die heutige Johann-Amos-Comenius-Grundschule und machte sein Abitur am Wilhelmsgymnasium. Jordan ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Kassel. Er ist begeisterter Naturliebhaber und Jäger.