Juraprofessor: „Dauernichtwähler für Demokratie gefährlich“

Kassel. Große Enttäuschung herrschte am Sonntag nach der Oberbürgermeisterwahl über die geringe Wahlbeteiligung vor. Über die Gründe und mögliche Reformen sprachen wir mit Juraprofessor Hermann Heußner.
Nur 36,7 Prozent der Wahlberechtigten – noch weniger als bei der OB-Wahl 2011 (42,6 Prozent) und der Kommunalwahl 2016 (42,8) – stimmten mit.
Warum steigt die Zahl der Nichtwähler, und was sind deren Motive?
Prof. Dr. Hermann Heußner: Theoretisch kann sich in Wahlenthaltung Zufriedenheit, Desinteresse, Ablehnung des konkreten Angebots oder Ablehnung des gesamten Systems ausdrücken. Die Wahlenthaltung ist in sozial benachteiligten Stadtteilen dauerhaft besonders hoch. In Kassel sind das vor allem Rothenditmold, Nord-Holland und Wesertor. Hier gibt es viele Dauernichtwähler. Die Wahlforschung geht mittlerweile davon aus, dass die Gruppe der Dauernichtwähler eine größere Distanz zum politischen System hat. Und dies ist für die Demokratie gefährlich.
Bei der OB-Wahl gab es keinen AfD-Kandidaten. Warum konnte CDU-Bewerber Kalb nicht mehr Unzufriedene und Konservative aus dem rechten Spektrum für sich gewinnen?
Herr Kalb ist ein hochseriöser Politiker. Er steht für die solide Mainstream-CDU. Für potenzielle AfD-Wähler ist er deshalb keine Alternative. Dazu kommt, dass SPD-Kandidat Christian Geselle auch für viele eher konservative Bürger offensichtlich ein wählbarer Kandidat war.
Wie lässt sich die Wahlbeteiligung wieder steigern?
Es gibt im Grunde drei Wege, die Wahlbeteiligung dauerhaft anzuheben. Zum einen die Absenkung des Wahlalters auf 16, noch besser 14 Jahre, und intensiver politischer Unterricht. So lernen Schüler von Anfang an, dass Demokratie nichts Abstraktes und Langweiliges ist, was mit ihnen nichts zu tun hat, sondern etwas, was sie selbst umsetzen können Dann flächendeckende Hausbesuche durch Angehörige der Parteien. Dies darf nicht nur sporadisch vor Wahlkämpfen geschehen, sondern muss regelmäßig stattfinden, um Vertrauen aufzubauen. Am Wirksamsten wäre die Einführung der Wahlpflicht. Schon ein geringes Bußgeld würde als Sanktion ausreichen. In Australien etwa wurde die Wahlpflicht 1924 eingeführt. Seitdem liegt die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen kontinuierlich über 90 Prozent.
Warum wird die Wahlpflicht dann nicht bei uns eingeführt?
In Umfragen lehnen etwa Zweidrittel der deutschen Wähler die Wahlpflicht ab. Sie haben damit keine Erfahrungen. Die Parteien wollen deshalb dieses heiße Eisen nicht anfassen. Dazu kommt: Je besser gestellt ein Stadtteil ist, umso höher sind die Wahlbeteiligung und der Anteil bürgerlicher Parteien. Paradebeispiel ist in Kassel der Brasselsberg. Umgekehrt gilt: Der Anteil bürgerlicher Parteien in sozial schwachen Stadtteilen ist eher niedrig. Bei einer Persönlichkeitswahl wie der Oberbürgermeisterwahl sind diese Tendenzen vorhanden, aber schwächer ausgeprägt. Wegen des tendenziellen Vorteils bürgerlicher Parteien an einer Demobilisierung linker Stadtteile ist das Interesse an einer Wahlpflicht in bürgerlichen Parteien geringer.
Wie könnte man Bürger von Reformen wie der Senkung des Wahlalters überzeugen?
Man müsste Versuche ermöglichen. Dazu müssten Kommunalwahlgesetze so geändert werden, dass sie es Kommunen überlassen, bei Wahlen in ihrer Stadt oder Gemeinde Wahlrechtsreformen zu testen.
Zur Person
Prof. Dr. Hermann Heußner (57) ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule Osnabrück. Er wurde in Kassel geboren und hat in Göttingen und in den USA Jura studiert. Heußner ist verheiratet, lebt mit seiner Frau und seinen drei Söhnen in Kassel.