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Verkehrswende in Kassel: „Die Stadtverwaltung muss mutig sein“

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Von: Matthias Lohr

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Seit Oktober Professorin für Radverkehr und Nahmobilität in Kassel: Die Verkehrswissenschaftlerin Angela Francke.
Seit Oktober Professorin für Radverkehr und Nahmobilität in Kassel: Die Verkehrswissenschaftlerin Angela Francke. © Markus Weinberg

Angela Francke ist eine von bundesweit nur sieben Rad-Professuren. Am Weltfahrradtag erklärt sie, wie die Verkehrswende in Kassel gelingen kann.

Kassel – Radfahren ist nicht nur gesund und nachhaltig, sondern auch wirtschaftlich. Laut Wissenschaftlern erzeugen Autofahrer pro Kilometer 20 Cent Kosten, die nicht durch Steuern und Abgaben gedeckt sind. Wer Rad fährt, erwirtschaftet dagegen einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen von 30 Cent. Auch auf solche Statistiken wird am Weltfahrradtag hingewiesen, der jedes Jahr am 3. Juni stattfindet. Wir sprachen mit der Verkehrswissenschaftlerin Angela Francke, die seit Oktober 2021 Professorin für Radverkehr an der Universität Kassel ist. Ihre Stelle ist bundesweit eine von sieben ausgewählten Stiftungsprofessuren zum Radverkehr.

Frau Francke, wie fährt es sich in Kassel mit dem Rad?

Mit lokalen Kenntnissen fährt es sich ziemlich gut. Vor drei Wochen war ich mit der städtischen Fahrradbeauftragten Anne Grimm und dem ADFC unterwegs. Wir sind 15 Kilometer gefahren, weitgehend ohne Steigungen und durch viele Fahrradstraßen. Das war schön. Wenn ich allerdings allein unterwegs bin, warte ich an vielen Kreuzungen und lande häufig auf den großen Straßen, da ich mich noch nicht so gut auskenne. Gerade die Berge hier bin ich nicht gewohnt. Da muss ich noch an meiner Kondition arbeiten.

Ist es in Kassel schlechter oder besser als in Karlsruhe, wo Sie vorher tätig waren und das wie Freiburg und Münster als eine Art deutsches Kopenhagen gilt?

Das kann man nicht vergleichen. Auch in Karlsruhe gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten, aber man hat dort mit der Verkehrswende viel früher angefangen. Es freut mich, dass man auch in einer Stadt mit einer autozentrierten Planung wie Kassel etwas bewegen kann. Das kann wegweisend werden. Wenn Kassel es schafft, schaffen es andere auch. Allerdings sind die topografischen Gegebenheiten in Kassel anspruchsvoller als in Karlsruhe. Es hilft da nicht, sich mit Kopenhagen zu vergleichen. Es dauert immer etwas, bis man die Veränderungen wirklich sieht.

Kassel, hieß es lange, sei zu bergig zum Radfahren.

Das kann ich gut nachvollziehen, aber diese Ausrede zählt nicht mehr für alle. Das Pedelec ist eine echte Lösung für Kassel. Ich finde, hier sind mehr motorisierte Radfahrende unterwegs als anderswo. Es ist wichtig, als Stadtverwaltung auch mutig zu sein – wie etwa in Frankfurt, das auch keine Fahrradstadt war. Dort wurden zahlreiche Fahrspuren für den Radverkehr umgewidmet, und entgegen der Befürchtungen gibt es nicht mehr Staus als vorher. Umwidmungen werden auch in Kassel sinnvoll sein, viele Straßen sind breit angelegt und haben Potenzial dafür. Ich spüre eine große Energie bei diesem Thema auch in der Bürgerschaft.

Wie bewegen Sie sich in der Regel fort?

In Kassel bin ich mit dem Rad, dem ÖPNV und zu Fuß unterwegs. Fernstrecken fahre ich meist mit der Bahn.

Warum braucht es eigentlich eine Fahrrad-Professur?

An den Universitäten wurde bislang vor allem die autozentrierte Planung gelehrt. Zwar tauchte auch der Radverkehr in den Stundenplänen auf, allerdings nur in sehr begrenztem Umfang. Mittlerweile hat sich schon etwas getan. Das merkt man auch daran, dass immer mehr Planerinnen und Planer für Radinfrastruktur gesucht werden. Es geht jedoch nicht nur um Lehre und Ausbildung, sondern auch um Forschung. Es gibt noch zahlreiche Lücken – etwa beim Zusammenspiel zwischen Fahrrad und Infrastruktur, der Digitalisierung und der Frage: Was braucht es, damit Radfahrende sicher und komfortabel unterwegs sind? Zudem können wir bei der verbesserten Zusammenarbeit von Verwaltung und Politik helfen.

Es geht also doch um mehr, als nur Radwege zu planen?

In der Tat. Die Arbeit einer Fahrrad-Professur ist sehr vielfältig. Das Faszinierende am Rad ist ja, dass es seit rund 200 Jahren fast unverändert in seiner grundsätzlichen Funktionsweise funktioniert. Man muss nur Luft aufpumpen, und schon kann es losgehen. Beim Auto muss man mindestens einen Führerschein besitzen, und die Technik durchschauen nur Spezialisten. Beim Handy funktioniert nach fünf Jahren das Betriebssystem oft nicht mehr. All das gibt es beim Rad nicht.

In der Pandemie haben viele das Rad für sich entdeckt. Was hält die Menschen trotzdem noch davon ab, öfter mit dem Rad zu fahren?

Das Wichtigste ist die sichere Infrastruktur, die oft fehlt. Radfahrende haben keine Knautschzone. Die muss von allen Verkehrsteilnehmenden mitgedacht werden. Radfahren darf keine Mutprobe sein. Dabei geht es nicht nur um abgetrennte Radfahrstreifen, die sich viele wünschen. Nicht nur Nebenstraßen und Wohngebiete können sicherer werden, wenn sie zu Tempo-30-Zonen werden. Helfen können auch positive Erfahrungen – zum Beispiel, wenn mir bewusst wird, welche positiven Auswirkungen Radfahren auf den Körper hat.

Sie erforschen unter anderem das Mobilitätsverhalten. Was hat sich dort zuletzt konkret verändert?

Schon vor Corona haben wir einen Anstieg des Radverkehrsanteils festgestellt. Das hat in der Pandemie weiter zugenommen, weil die Menschen einen Ausgleich gesucht haben. Sie sind nicht nur mit dem Rad zur Arbeit gefahren, sondern es war auch ein Ersatz zum Beispiel für die lange geschlossenen Fitnessstudios. Des Weiteren hält der Pedelec-Trend an. Mittlerweile ist jedes zweite verkaufte Fahrrad ein Pedelec.

E-Scooter scheinen die Gesellschaft zu spalten: Vor allem junge Leute finden sie cool, andere sind total genervt, weil sie oft im Weg rumstehen. Wie finden Sie die Roller?

Sie sind ein Mosaikstein zur Mobilitätswende, aber nicht die alleinige Lösung. Genutzt werden E-Scooter vor allem am Samstagabend, wenn der ÖPNV-Verkehr nicht so dicht ist. Hier können sie eine Ergänzung sein. Allerdings werden die Roller nur von speziellen Gruppen genutzt, da sie preislich nicht attraktiv sind. Gleichzeitig wird mit ihnen zusätzlicher Verkehr induziert. Das heißt: Menschen fahren E-Scooter statt Bus und Rad. Zusätzlich sehen wir steigende Unfallzahlen. Für Kassel mit seinen Bergen wäre ein Sharingsystem mit E-Bikes sinnvoll – wie beispielsweise in Lissabon, wo die Anstiege noch steiler sind.

Unter Politikern und Planern ist es weitgehend unstrittig, dass es weniger Autos in der Stadt geben soll. Ist die autofreie Stadt eine lebenswertere Stadt?

Fragen Sie mal Menschen, wie sie sich eine lebenswerte Stadt vorstellen. Die wenigsten werden sagen: „Ich wünsche mir eine Hochstraße für Autos mit einem Überweg für Fußgänger.“ Eine Stadt ist lebenswerter, wenn sie grüner ist, mehr Abkühlungsmöglichkeiten bietet und unterschiedliche Bedürfnisse erfüllt. Straßen sollen nicht nur einen Durchfluss ermöglichen, sondern auch eine soziale Funktion erfüllen und Aufenthaltsqualität bieten. Die Stadt der Zukunft ist autofrei, aber sie muss für alle da sein, nicht nur für die, die es sich leisten können. Ideal ist die 15-Minuten-Stadt der kurzen Wege. Dazu müssen Quartiere verdichtet und gemischt werden. Es darf nicht nur getrennte Arbeitsstätten und Wohnflächen geben, da das nur mehr Verkehr produziert.

Viele Menschen, die auf dem Land leben, auf das Auto angewiesen sind und oft auch nach Kassel pendeln, fragen sich, wie sie nachhaltig mobil sein können. Ist das Fahrrad auch für sie eine Lösung?

Hier gibt es verschiedene Lösungen, und diese sollten flexibel eingesetzt werden. Man kann etwa mit dem Auto zur nächsten Bahnstation fahren. Vielleicht hilft dabei das 9-Euro-Ticket, um solche Verbindungen einmal auszuprobieren. Man kann mit Kolleginnen und Kollegen Fahrgemeinschaften bilden, damit nur ein statt drei Autos unterwegs sind. Zur besseren Anbindung des Umlands sind auch einige Radschnellverbindungen in der Planung. Auch hier werden viele das Pedelec nutzen, weil man einfach weitere Wege zurücklegen kann, ohne verschwitzt anzukommen. Der ländliche Raum muss insgesamt stärker in den Fokus rücken.

Wie viele Fahrräder haben Sie eigentlich?

Das sind wohl um die zwei Dutzend, vor allem historische Fahrräder. Das Sammeln der Räder ist ein Hobby von mir. (Matthias Lohr)

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