Kasseler Bürgerpreis „Glas der Vernunft“ geht an Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy

Die Preisträgerin 2022 hat der Debatte um die Dekolonialsierung europäischer Museen entscheidende Impulse gegeben.
Kassel – Jede Menge Kunstschätze, die in Europas Museen bewundert werden, stammen ursprünglich aus Beutezügen in früheren Kolonien. Die recht neue Debatte um die Rückführung solcher Kulturgüter ist zu einem bestimmenden Thema der Kulturpolitik geworden und hat die Stifter des Kasseler Bürgerpreises inspiriert, in diesem Jahr eine der profiliertesten Stimmen in der Restitutionsdebatte mit dem „Glas der Vernunft“ auszuzeichnen:
Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll am 9. Oktober an die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy verliehen werden.
Savoy, die in Berlin und Paris lehrt, hatte 2017 viel Aufsehen erregt, als sie aus dem prestigeträchtigen Beirat des Berliner Humboldt-Forums austrat, um damit gegen die fehlende Klarheit zur Herkunft der für die Ausstellung geplanten Objekte zu protestieren. International bekannt wurde sie, als sie 2018 im Auftrag von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron untersuchte, wie Kunst- und Kulturschätze aus ehemaligen Kolonien in französische Museen gekommen sind.
Dies zeigt erste Wirkungen: Frankreich gibt 26 Schätze an die Republik Benin zurück, auch Deutschland will in diesem Jahr Bronzen nach Nigeria restituieren. Das Time Magazine hatte Bénédicte Savoy wegen ihres Einflusses auf diesem Feld im Vorjahr zu den 100 einflussreichsten Menschen gezählt.
Damit passe die Kunsthistorikerin in die Linie preiswürdiger Persönlichkeiten, die wirkmächtig auf aktuell relevante Probleme aufmerksam machen, sagte Bernd Leifeld, Vorstandsvorsitzender des Bürgerpreis-Vereins. Sie habe „gegen erhebliche Widerstände den Finger in die Wunde des oft verschwiegenen oder verharmlosten Kunstraubs in der Kolonialzeit gelegt“ und als Wissenschaftlerin eine Diskussion geprägt, die den Umgang der Museen mit ihren Beständen aus dieser Zeit verändern werde. Sie bringe damit ein „überfälliges Umdenken“ voran. Dabei verfolge Savoy einen konstruktiven Ansatz, statt nur zu verurteilen und „Abrechnung mit der Vergangenheit“ zu betreiben.
Den Bürgerpreis-Stiftern geht es laut Leifeld darum, mit der Auszeichnung Savoys eine Position zu unterstützen, die Wege aufzeigt, wie sich „kulturelle Beziehungen auf Augenhöhe“ gestalten lassen. Diese Thematik dürfte im Sommer auch das Publikum der documenta fifteen besonders bewegen, wenn man den Ansatz des Leitungsteams Ruangrupa betrachtet.
Leifeld, der viele Jahre selbst die Geschäftsführung der Kunstschau innehatte, betonte aber, dass die Preisträgerinnenwahl „kein Beitrag zur documenta“ sein solle. „Wir wollen damit auch keine Kasseler Restitutionsprobleme lösen“, sagte er. Allerdings ist es den Initiatoren offensichtlich willkommen, wenn ihre Entscheidung sensibilisiert und Debatten befördert: Man werde „aufmerksam begleiten“, wie auch in Kassels Museen mit dem Thema Raubkunst umgegangen wird. Und man erwarte gespannt, wie bei der d 15 „Kunstwerke in ihren kulturellen Kontexten zu erleben sein werden“.
Diese Eindrücke werden beim Publikum noch recht frisch in Erinnerung sein, wenn Bénédicte Savoy den Kasseler Bürgerpreis bei einer Gala am Sonntag, 9. Oktober, im Kasseler Opernhaus verliehen bekommt. Nachdem der Festakt im Jahr 2020 wegen der Pandemie ausgefallen und im vergangenen Jahr vor deutlich reduziertem Publikum stattfinden musste, hofft der Bürgerpreis-Verein diesmal auf bessere Bedingungen. Dennoch wird mit gebotener Vorsicht geplant: Eintrittskarten sollen erst zu einem späteren Zeitpunkt verfügbar werden. (Axel Schwarz)