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„Was für Schmerzen das waren“: Verkehrsopfer fordern mehr Achtsamkeit von Autofahrern

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Von: Bastian Ludwig

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Lange mied sie diesen Ort: An dieser Ausfahrt des Aldi-Marktes an der Wolfhager Straße fuhr 2016 eine Autofahrerin gegen Christine Mussel und blieb mit dem Vorderrad auf deren linkem Unterschenkel stehen.
Verkehrsopfer in Kassel fordern mehr Achtsamkeit von Autofahrern im Straßenverkehr. © Bastian Ludwig

Bei Unfällen tragen Radfahrer und Fußgänger ein besonders hohes Risiko, sich zu verletzen oder gar zu sterben. Hier berichten vier Kasseler von ihren Unfallerlebnissen.

Kassel – Täglich liest man Unfallmeldungen in der Zeitung. Erst im Gesamtblick zeigt sich, wie viele Schicksale und Lebensverläufe betroffen sind. Vergangenes Jahr zählte die Polizei auf Kassels Straßen 321 Unfälle mit Fußgängern und Radfahrern. Dabei wurden 34 Menschen schwer verletzt und zwei Fußgänger getötet.

Auf zehn Jahre betrachtet, waren es allein in der Stadt Kassel fast 650 schwer verletzte Radfahrer und Fußgänger sowie 20 Todesfälle. Hinter jeder dieser Zahlen stecken persönliche – teils traumatische – Erlebnisse.

Kasseler Verkehrsopfer erzählen von ihren Erlebnissen: Das Trauma von Christine Mussel

Ein solches Trauma hat auch Christine Mussel erfahren. Die Seniorin war im November 2016 mit ihrem Rad an der Wolfhager Straße unterwegs. Sie hatte gerade im dortigen Tegut-Markt eingekauft und schob ihr Rad auf dem Bürgersteig in Richtung Paul-Gerhardt-Kirche. Auf Höhe der Einfahrt zum Aldi-Markt hielt sie an. Eine Autofahrerin stand in der Ausfahrt. „Wir hatten Blickkontakt und die Fahrerin blieb stehen.“ Also schob Mussel ihr Rad an der Einfahrt vorbei. Doch plötzlich fuhr die Autofahrerin los und überrollte die Seniorin.

„Sie stand mit ihrem Vorderreifen auf meinem linken Unterschenkel. Man kann sich nicht vorstellen, was für Schmerzen das waren. Die Fahrerin stieg aus und ich brüllte sie an, sie solle ihr Auto zurückfahren“, erzählt Mussel. Es habe gefühlt viel zu lange gedauert, bis die etwa 50 Jahre alte Fahrerin reagiert habe. Passanten schleppten Mussel anschließend in die benachbarte Tankstelle und riefen den Rettungswagen, der sie ins Krankenhaus brachte.

Wie durch ein Wunder hatte Mussel nur eine schwere Quetschung erlitten. Die Berufsgenossenschaft stellte später einen zehnprozentigen Dauerschaden fest. Dieser sorgt dafür, dass Mussel regelmäßig Stützstrümpfe tragen muss.

Von der Fahrerin erreichte Mussel im Krankenhaus und auch später keinerlei Entschuldigung. Schlimmer noch: Bei der anschließenden juristischen Aufarbeitung – die sich über zwei Jahre hinzog – behauptete die Autofahrerin plötzlich, sie habe die Fußgängerin nicht angefahren. „Das war der Hammer. Es gab ja eine klare Diagnose. Zum Glück gab es Videoaufzeichnungen von der Tankstelle, die den Vorgang in der Einfahrt dokumentierten. Sonst wäre es vermutlich Aussage gegen Aussage gewesen.“

Mussel erhielt ein Schmerzensgeld. Ein halbes Jahr lang mied sie es wegen der traumatischen Erlebnisse, am Unfallort vorbeizufahren.  

Paketbote parkte Radweg in Kassel zu: Sascha Lange musste ausweichen und stürzte heftig

10. Mai 2017: Es war der erste schöne Tag des Jahres. Sascha Lange fuhr mit dem Rad aus Richtung Berliner Brücke auf der Breitscheidstraße. Kurz hinter der gleichnamigen Haltestelle war der parallel zur Fahrbahn markierte Radweg durch das Fahrzeug eines Paketboten blockiert.

Mulmiges Gefühl: Sascha Lange am Unfallort an der Haltestelle Breitscheidstraße.
Mulmiges Gefühl: Sascha Lange am Unfallort an der Haltestelle Breitscheidstraße. © Bastian Ludwig

Als Lange dem Lieferwagen ausweichen wollte, geriet er ins Straßenbahngleis und überschlug sich. Beim Aufprall brach Langes linker Oberschenkelhals. „Das ist der dickste Knochen im Körper“, sagt der IT-Fachmann der Uni Kassel. Der Paketbote habe ihn wieder auf die Beine ziehen wollen. „Der hatte wohl noch nie einen Erste-Hilfe-Kurs besucht.“

Es war Langes Glück, dass direkt hinter ihm ein Rettungswagen fuhr. So konnte er schnell behandelt werden. Länger dauerte die juristische Aufarbeitung. Ein halbes Jahr war Lange in der Reha und damit berufsunfähig. Der 47-Jährige trug eine Gehbehinderung davon. Drei Schrauben stecken in seiner Hüfte. Mithilfe der Hamburger Kanzlei Bikeright, die auf solche Fälle spezialisiert ist, erhielt er Schadensersatz. Der Paketbote bekam nur eine Teilschuld. „Es hieß, ich hätte auch auf den Bürgersteig ausweichen können.“

Lange wünscht sich, dass das Ordnungsamt das Zuparken von Radwegen stärker kontrolliert und ahndet.

Architekt von Bus in Kassel abgedrängt: Marc Köhler hatte viel Glück auf Werner-Hilpert-Straße

Marc Köhler erinnert sich gut an den Unfall im Juni 2019. Damals war er mit dem E-Bike auf der Werner-Hilpert-Straße in Richtung Hauptbahnhof unterwegs. „Auf der Straße gibt es keinerlei Infrastruktur für Radfahrer“, sagt der Architekt aus Kassel. Also fuhr der Viel-Rad-Fahrer auf dem rechten Fahrstreifen.

Ein Bus drängte ihn von der Fahrbahn: Marc Köhler wurde im Juni 2019 bei einem Unfall verletzt.
Ein Bus drängte ihn von der Fahrbahn: Marc Köhler wurde im Juni 2019 bei einem Unfall verletzt. © Bastian Ludwig

100 Meter oberhalb des Lutherplatzes wurde Köhler von einem Gelenkbus überholt. „Der Busfahrer hatte beim Überholen genug Abstand zu mir gehalten, doch offenbar leider nicht daran gedacht, dass er mit einem Gelenkbus unterwegs war“, sagt Köhler. Jedenfalls scherte der Busfahrer zu früh wieder auf den rechten Fahrstreifen ein, sodass Köhler vom hinteren Teil des Busses in Richtung des seitlichen Parkstreifens gedrängt wurde. In der Folge stürzte er und landete auf der Fahrbahn.

Dabei hatte er mehrfaches Glück: Er wurde nicht von herannahenden Autos erfasst und der Helm hatte ihn vor Kopfverletzungen bewahrt. Nachdem Köhler eine Weile auf der Straße gelegen hatte, wurde er vom Mitarbeiter eines benachbarten Fitnessstudios aufgesammelt. Köhler war an Händen und Knien verletzt. Nach dem Unfall hat der Kasseler lange Zeit Strecken ohne Radwege gemieden. Noch heute fährt er Umwege, um sicher zu fahren.

Auf Zebrastreifen in Kassel erfasst: Jörg Kilian wurde von Autofahrerin schwer verletzt

Er hat bis heute keine Erklärung: Am 2. Februar vergangenen Jahres wollte Jörg Kilian an der Druseltalsraße/ Ecke Baunsbergstraße den Zebrastreifen zu Fuß überqueren. Als der 53-Jährige bereits mitten auf dem Zebrastreifen stand, wurde er von einer Autofahrerin erfasst. Die Frau hatte ihn offenbar übersehen. „Ich weiß nicht, warum sie mich nicht gesehen hat, aber ich hatte Glück, dass es ein Smart und kein SUV war“, sagt Kilian. Doch der Smart war ungebremst in ihn hineingefahren.

Hier passierte es: Jörg Kilian am Zebrastreifen, wo er als Fußgänger angefahren wurde.
Hier passierte es: Jörg Kilian am Zebrastreifen, wo er als Fußgänger angefahren wurde. © Bastian Ludwig

Beim Aufprall wurden Schulterkopf und Oberarm gebrochen. Der behandelte Arzt solle später von einem Trümmerfeld sprechen. Was für Kilian genauso schlimm war, war das Verhalten der Autofahrerin. „Sie hat mich mit Flüchen überzogen.“ Eine andere Passantin habe sich dankenswerterweise um ihn gekümmert und seinen Kopf gehalten, bis der Krankenwagen kam.

Der 53-Jährige erhielt später ein Schmerzensgeld und die Frau musste 1000 Euro an eine gemeinnützige Stiftung spenden. „Es hat mich Überwindung gekostet, bis ich wieder über Zebrastreifen gehen konnte.“ Die Unfallverursacherin habe sich in der Klinik nicht einmal erkundigt, wie es ihm gehe.

Audifahrer nahm ihm in Kassel die Vorfahrt: Robert Wöhler wurde am Mulang von Auto angefahren

Robert Wöhler kennt als Vorsitzender des ADFC Kassel die Probleme der Radfahrer. Im Juli 2018 hat der Kasseler am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie gefährlich es als Radfahrer sein kann.

Zurück an der Unfallstelle: An der Mulangstraße wurde Robert Wöhler von einem Audifahrer erfasst.
Zurück an der Unfallstelle: An der Mulangstraße wurde Robert Wöhler von einem Audifahrer erfasst. © Bastian Ludwig

Wöhler war auf der Mulangstraße bergab in Richtung Habichtswald-Klinik und Wilhelmshöher Allee unterwegs. Auf Höhe der Einmündung Wigandstraße kam ihm ein Audifahrer entgegen, der links in die Wigandstraße einbog und dabei Wöhlers Vorfahrt missachtete. „Der hat nicht mal geblinkt“, sagt Wöhler. Der Radfahrer versuchte noch auszuweichen, schaffte es aber nicht. Wöhler landete auf der Motorhaube. „Eines der ersten Dinge, dass der Fahrer zum Beifahrer sagte, war, dass sie im VW-Werk anrufen müssen, weil sie nun später zur Arbeit kommen.“

Wöhlers Schulter war ausgekugelt und der Brustkorb war geprellt. Er musste eine Nacht im Krankenhaus verbringen und mehrere Wochen zur Physiotherapie. Das Verfahren wurde gegen Auflagen eingestellt. Wöhler erhielt Schmerzensgeld. Lange Zeit war er sehr vorsichtig unterwegs. Seine Lektion: „Man wird oft übersehen auf dem Rad. Auch auf Vorfahrt sollte man sich nie verlassen.“ (Bastian Ludwig)

Wie ein Zusammenstoß zwischen Radfahrer und Autofahrer schlimmsten Falls ausgehen kann, zeigt ein Unfall vom Mai 2022 aus Fritzlar, bei dem eine Radfahrerin ums Leben kam.

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