Theologin: Darum lehnt die Bibel Homosexualität nicht ab

Verurteilt die Bibel Homosexualität? Darüber ist in der katholischen Kirche ein Streit entbrannt. Die Kasseler Theologin Ilse Müllner erklärt, warum die Heilige Schrift Homosexualität nicht ablehnt.
Was sagt die Bibel zum Thema Homosexualität? Der Streit über diese Frage kocht derzeit in der Katholischen Kirche hoch. Weil der Frankfurter Jesuitenpater Ansgar Wucherpfennig, Rektor der Hochschule St. Georg, sich von der vermeintlichen Verurteilung von Homosexualität in der Bibel distanziert hatte, verweigert ihm der Vatikan die Zustimmung für eine weitere Amtszeit. Wir sprachen mit der Kasseler Theologie-Professorin Ilse Müllner darüber.
Auch Sie sagen, dass die Bibel eine Verurteilung von Homosexualität nicht hergibt. Was stimmt nicht mit den Bibelstellen, die dafür immer wieder hervorgeholt werden?
Prof. Dr. Ilse Müllner: Was daran vor allem nicht stimmt, ist, dass es das Konzept der Homosexualität, wie wir es heute kennen, in der Antike noch gar nicht gab. Wir verstehen heute darunter eine sexuelle Lebensorientierung, eine auf Dauer angelegte Beziehung unter gleichgeschlechtlichen Partnern. Das ist etwas völlig anderes als das, was die Bibel beschreibt. Dort gibt es Stellen, die sich auf homosexuelle Handlungen beziehen. Diese muss man aber im Kontext der damaligen Zeit sehen.
Ein Klassiker, der gern herangezogen wird, ist die Leviticus-Stelle: „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.“
Müllner: Dieses Buch umfasst verschiedene Vorschriften und Regeln. Dabei geht es auch um die Frage, wer für Sexualverkehr in Betracht kommt. So werden etwa Inzestverbote formuliert oder auch das Verbot, mit einer menstruierenden Frau zu schlafen. Hintergrund dieser Stellen ist, dass Sexualität dazu dienen soll, Nachkommen hervorzubringen. In diesem Zusammenhang muss man auch die genannte Stelle sehen, dass Männer nicht mit Männern schlafen sollen. Wie gesagt: Dabei geht es um homosexuelle Akte, nicht um homosexuelle Beziehungen.
Ist dieser Unterschied nicht spitzfindig? Wer Homosexualität ablehnt, lehnt ja vor allem die sexuellen Akte ab.
Müllner: Erbsenzählerei ist mein Job! (lacht) Bei der Auslegung eines uralten Textes muss man sehr genau sein. Die Grundunterscheidung, dass die Bibel nur auf einzelne sexuelle Handlungen abzielt, finde ich aber gar nicht spitzfindig. Homosexualität heute meint ja gerade nicht den einzelnen Akt, sondern geht mit Beziehung und gegenseitiger Verantwortung einher. Diese Beziehungsebene muss man mitdenken.
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Eine weitere oft ins Feld geführte Bibelstelle ist die Geschichte von Sodom und Gomorrah.
Müllner: Auch das ist keine Geschichte über Homosexualität. Sondern über sexuelle Gewalt – daher auch der Begriff Sodomie. Männer der Stadt Sodom fordern sexuellen Verkehr mit den männlichen Gästen, um sie zu demütigen. Es geht um Erniedrigung mithilfe von Sexualität, etwas das wir leider bis heute aus Kriegen kennen. Homosexuelle Handlungen, wie sie in der Bibel beschrieben werden, haben immer auch mit einem Machtgefälle zu tun. Das zeigt sich auch in einer häufig angeführten Stelle in Paulus' Römerbrief.
Worum geht es da?
Müllner: Paulus spricht dort von Menschen, die sich von Gott abwenden und Dinge tun, die sie nicht tun sollten – darunter auch homosexuellen Geschlechtsverkehr haben. Wenn wir heute von Homosexualität reden, denken wir an zwei freie Männer oder Frauen, die sich aus freien Stücken zusammentun. Damals ging es um die Konstellation alter Mann mit einem Knaben oder reicher Mann mit einem Sklaven. Gegen dieses Machtgefälle wendet sich Paulus.
Warum werden solche Stellen dann immer wieder gegen Homosexualität herangezogen – auch von hochrangigen Theologen, die den biblischen Kontext kennen müssten?
Müllner: Es gibt auch in der Theologie eben unterschiedliche Positionen und auch Herangehensweisen an die Bibel. In der Tat ist aber eins merkwürdig: Die Päpstliche Bibelkommission hat bereits in den 1990er-Jahren formuliert, dass es eine ganze Bandbreite von Methoden gibt, um die Bibel zu interpretieren. Nur eine Auslegungsart wurde dabei als nicht zulässig abgelehnt: der Fundamentalismus. Damit ist genau das gemeint: Einzelne Sätze aus dem Zusammenhang reißen und Handlungsanweisungen daraus ableiten. Das geht gar nicht.
Ist die Bibel also vor allem Interpretationssache? Nach dem Motto: Ich lese mir den Text, wie er mir gefällt?
Müllner: Die Bibel ist ein antiker Text, über 2000 Jahre alt. Sie muss natürlich immer wieder neu interpretiert werden, sonst haben wir keine Möglichkeit, sie für unser Leben zu lesen. Idealerweise sollten wir dabei nicht das hineinlegen, was wir von vornherein herauslesen wollen. Sondern wir sollten miteinander über die Auslegung diskutieren. Bitter ist, dass gerade im Bereich der Sexualmoral Bibelzitate so häufig scheinbar wortwörtlich genommen werden, ohne genau hinzuschauen. Warum macht man das nicht genauso bei wirtschaftsethischen Fragen? Zum Beispiel gibt es in der Bibel klare Aussagen zum Schuldenerlass oder zum Zinsverbot. Warum nehmen wir die nicht einfach mal wortwörtlich?
Homosexualität offen ansprechen
Warum tut sich die Katholische Kirche so schwer beim Thema Homosexualität? Hat das auch mit dem Pflichtzölibat und den Missbrauchsfällen zu tun?
Müllner: Die Problemfelder haben sicher miteinander zu tun. Aber einlinige Versuche, das zu erklären, taugen da nichts. Wir müssen lernen, offen über solche Zusammenhänge von Macht und Sexualität zu reden, auch und vor allem in der Katholischen Kirche. Deshalb ist die bislang nicht erteilte Unbedenklichkeitsbescheinigung für Ansgar Wucherpfennig auch so bitter. Denn solche Disziplinarmaßregelungen machen es schwierig, heikle Themen wie Homosexualität offen anzusprechen. Und genau das ist dringend nötig.

Zur Person
Ilse Müllner (52) stammt gebürtig aus Wien. Sie studierte Katholische Theologie in Wien und Tübingen und promovierte in Münster über sexualisierte Gewalt in den Davidserzählungen. Nach Lehraufträgen an verschiedenen Hochschulen kam sie 2001 zunächst für eine Lehrstuhlvertretung an die Uni Kassel. Seit 2004 ist sie Professorin für Biblische Theologie am Institut für Katholische Theologie. Müllner ist verheiratet und hat zwei Töchter. Die Familie lebt in Kassel.