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Trotz Corona-Lockdown: Kinderpsychologe aus Kassel plädiert für vollständige Öffnung der Kitas

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Von: Katja Rudolph

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Kinder waschen sich die Hände
Als erstes Händewaschen: Im Kindergarten geht es für alle Kinder zuerst zum Waschbecken. Trotz des Lockdowns haben die Kitas geöffnet, Eltern sind allerdings aufgerufen ihre Kinder zu Hause zu betreuen. © Rolf Vennenbernd/dpa

Trotz Corona-Lockdown: Kinderpsychologe Klaus Fröhlich-Gildhoff aus Kassel spricht sich für eine komplette Öffnung der Kitas und Grundschulen aus.

Kassel – Nach dem Ende der Weihnachtsferien sind die Kindertagesstätten und Grundschulen zwar wieder geöffnet. Eltern sind jedoch aufgerufen, ihre Kinder weiterhin zuhause zu betreuen. Wir sprachen über die Situation mit dem Kasseler Kinder- und Jugendpsychologen Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff. Er hatte während des Lockdowns im vergangenen Frühjahr in einem HNA-Interview die Schließung der Kitas kritisiert.

Anders als im ersten Lockdown, als es nur eine Notbetreuung für Eltern mit systemrelevanten Berufen gab, sind die Kitas diesmal nicht grundsätzlich geschlossen. Finden Sie das eine bessere Lösung?

Ja, weil man mehr Kindern die Möglichkeit gibt, in die Kita zu gehen. Wir sehen, dass die Schere der Bildungsgerechtigkeit in der Coronakrise weiter auseinandergeht. Kitas sind ja nicht nur Betreuungseinrichtungen, sondern dort findet Bildung und Erziehung statt. Deshalb finde ich es positiv, dass es nicht mehr die Hürde gibt, eine besondere Begründung für die Betreuung finden zu müssen.

Dennoch gilt der Appell, die Kinder zuhause zu lassen. Eltern müssen abwägen zwischen Coronarisiken, ihren eigenen beruflichen Anforderungen und dem Wohl des Kindes. Viele haben Gewissenskonflikte. Was raten Sie in der Situation?

Es wäre hilfreich, wenn Eltern mit der Kita oder Schule in Ruhe besprechen und aushandeln könnten, was für sie und das Kind sinnvoll und vertretbar ist. Leider sind dafür die Zeit und Ressourcen häufig nicht da. Nach allem, was wir inzwischen über Corona wissen, ist es meiner Ansicht nach auch aus medizinischer Sicht vertretbar, dass die Kitas und Grundschulen geöffnet sind. Studien haben gezeigt, dass Kinder sich deutlich weniger infizieren als Erwachsene und auch eine geringere Rolle als Überträger des Virus spielen. Und die Kitas und Grundschulen haben inzwischen gute Hygienekonzepte, auch für das Bringen und Abholen durch die Eltern.

Dennoch sind 20 oder 25 Kinder in einer Gruppe eine Menge Kontakte. Geht der Schutz auch der Erzieher und der Eltern und Großeltern der Kinder in der Pandemie nicht vor?

Ich verharmlose Corona nicht, aber ich nehme eine klare Position für das Wohl der Kinder ein. Denn nach jetzigem Stand des Wissens liegen die Infektionsrisiken in erster Linie bei Erwachsenen. Dass sich nach wie vor viele Menschen an der Arbeit oder trotz der Kontaktbeschränkungen in ihrer Freizeit treffen, sehe ich als das eigentliche Problem. Wenn Kinder weder stark gefährdet noch entscheidende Infektionsherde sind, kann doch die Logik nicht sein, dass man Kitas und Schulen schließt, aber den Arbeitsbetrieb offenhält. Diese Position vertritt im Übrigen auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärztinnen.

Also sollten mehr Menschen ins Homeoffice?

Alle, bei denen es möglich ist. Aber das heißt nicht, dass dann auch alle Kinder zuhause bleiben sollen. Homeoffice klingt so schön flexibel. Aber die Betreuung kleiner Kinder neben der Arbeit funktioniert nicht und tut weder Eltern noch Kindern gut.

Würden Sie also für eine vollständige Öffnung von Kitas und Grundschulen plädieren?

Ja, und zwar nicht nur im Sinne der kognitiven und soziale Entwicklung von Kindern, sondern auch aus dem Grund des Kinderschutzes. Wenn Eltern Arbeit und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen müssen, steigt das Stresslevel in den Familien. Natürlich werden dadurch nicht gleich alle Kinder geschlagen, aber viele werden öfters barsch zurechtgewiesen, in ihr Zimmer geschickt oder mit Mediennutzung ruhig gestellt. Deshalb geht es bei der Frage der Kita-Öffnung ganz klar um das Kindeswohl.

Viele Kinder sitzen inzwischen seit vier Wochen wieder zuhause. Was bedeutet das für Ihre Entwicklung?

Ihnen fehlen vor allem die sozialen Kontakte zu anderen Kindern. Die Kita kann schon durch die Vielfalt der Räume und des pädagogischen Angebots, aber auch durch das Miteinander in der Gruppe Lernanregungen bieten, die man so zuhause nicht zur Verfügung stellen kann. Außerdem haben die pädagogischen Fachkräfte einen geschulten Blick für die Entwicklung der Kinder. Vier Wochen Kita-Pause sind sicher nicht so schlimm. Aber bei sechs, acht Wochen kann schon einiges übersehen werden oder in Verzug kommen. Das ist vor allem für Kinder problematisch, die einen besonderen Förderbedarf haben. Zum Beispiel können Kinder, bei denen zuhause kein Deutsch gesprochen wird, in der Sprache zurückfallen.

Man darf sich nach den aktuellen Regeln ja nicht einmal draußen mit einer weiteren Familie treffen. Also ist der Kontakt zu Gleichaltrigen quasi unmöglich. Wie lange ist das vertretbar?

Die Logik dieser Regel, dass ein Haushalt sich nur mit einer weiteren Person treffen darf, erschließt sich mir nicht. Sie ist übertrieben. Warum sollten sich zwei Erwachsene und die Kinder aus den beiden Familien nicht treffen dürfen? Kinder unter 14 Jahren hätte man von den Kontaktbeschränkungen ausnehmen müssen. So wie die Regeln jetzt ist, wird sie vermutlich von vielen unterlaufen. Damit wird ein Stück Widerstand geweckt, und das halte ich für problematisch.

Die Coronazeit dauert fast ein Jahr an, inklusive zwei Lockdowns. Gibt es schon Erkenntnisse, welche Folgen die Pandemie mittelfristig für Kinder hat?

Verlässliche Daten gibt es dazu noch nicht. Ob und wie Kinder durch die Pandemie beeinträchtigt sind, hängt davon ab, wie die Situation im Elternhaus ist und und was durch Institutionen wie Kita und Schule aufgefangen werden kann. Mein Eindruck ist, dass viele Kinder die Situation wie selbstverständlich angenommen und sich an die Rahmenbedingungen gewöhnt haben – vielleicht sogar besser als mancher Erwachsene. Mein dreijähriger Enkel etwa wäscht sich, wenn er nach Hause kommt, ohne Aufforderung jedes Mal die Hände. 80 Prozent der Kinder sind seelisch weitgehend stabil, sie werden die Erlebnisse in der Coronazeit verarbeiten. Für Kinder, die sozial benachteiligt oder in ihrer Entwicklung gehandicapt sind, sehe ich durch Corona allerdings erhöhte Entwicklungsrisiken.

Welche Rolle spielt das Elternhaus?

Viel hängt davon ab, was die Eltern vorleben und wie viel Kraft sie in der Situation haben. Wenn es ihnen gelingt, einerseits Respekt vor der Krankheit zu vermitteln, aber auch verantwortlich abwägen, was in der Pandemie möglich ist, werden keine langfristigen Schäden bei den Kindern entstehen. Wenn Eltern übermäßig Angst haben, wird es für die Kinder allerdings schwierig. Dann sind auch sie verunsichert und gehemmt.

Für Kinder ist ein Jahr eine Ewigkeit. Wird die lange Zeit des Abstands und Distanzhaltens zu anderen das Sozialverhalten der Kinder dauerhaft prägen?

Das glaube ich nicht. Herzliches Miteinander drückt sich ja nicht nur durch Umarmen aus, sondern auch im sonstigen Umgang miteinander. Dafür haben Kinder feine Antennen. So wie das Händewaschen meines Enkels nach Corona sicher wieder nachlassen wird, wird sich auch unser Verhalten gegenüber Freunden und Bekannten wieder weitestgehend normalisieren. (Von Katja Rudolph)

Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff
Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff © Privat

Zur Person

Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff (64) ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche. Er stammt aus Kassel und hat in Marburg und Gießen studiert. Seit fast 20 Jahren lehrt er an der Evangelischen Hochschule Freiburg als Professor für Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie und gründete dort das Zentrum für Kinder- und Jugendforschung (ZfKJ).

Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Bereiche der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung. Fröhlich-Gildhoff ist verheiratet und lebt mit seiner Frau in Kassel. Er hat zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder.

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