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Armut in Kassel: „Ich verwerte den letzten Krümel“

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Clarissa lebt von 700 Euro Frührente. Hier deckt sich die Kasselerin mit einer Brotspende ein.
In der Bahnhofsmission: Clarissa lebt von 700 Euro Frührente. Hier deckt sich die Kasselerin mit einer Brotspende ein. © Christina Hein

In Kassel soll es jetzt einen Pakt gegen Armut geben. Wir porträtieren eine Frau, die mit 700 Euro Rente unter der Armutsgrenze lebt.

Kassel – Vor den Räumen der Bahnhofsmission im Bahnhof Wilhelmshöhe hat sich eine Schlange gebildet. Noch bevor die Anlaufstelle für Reisende und Menschen in Not um 9 Uhr offiziell öffnet, stehen sie an, um sich kostenlos einen heißen Kaffee und ein belegtes Frühstücksbrötchen abzuholen.

Die umliegenden Lebensmittelgeschäfte und Bäckereien spenden Backwaren und andere Nahrungsmittel, von denen sich die Bedürftigen bedienen dürfen. „Das geben wir direkt weiter“, sagt Karin Stürznickel-Holst, die Leiterin der Bahnhofsmission. „Die Frage ist nur, wie lange das noch funktioniert“, sagt sie. Denn die Zahl der Bedürftigen nehme permanent zu. Inzwischen seien es täglich mehr als 60, die sich über die Wendeltreppe in die Räume im 1. Stock begeben.

Armut in Kassel: Clarissa kann sich nur noch wenige Lebensmittel leisten

Eine Stammkundin ist Clarissa, die ihren Nachnamen und ihr Alter nicht in der Zeitung lesen möchte. „Es ist alles so teurer geworden. Ich kann mir nur noch wenige Lebensmittel leisten“, erklärt sie. Neben dem Kaffee greift sie zu einem kleinen Laib Brot. „Das nehme ich gerne mit, auch wenn es nicht mehr ganz frisch ist.“

Clarissa ist arm. Über die Zeit hat sie Strategien entwickelt, um gegen einen leeren Magen vorzugehen („Ich verwerte den letzten Krümel“) aber auch, um ihre Würde zu wahren. Sich ungepflegt zu zeigen, kommt für sie nicht in Frage. Im Drogeriemarkt kauft sie Shampoo und Schminke – nie ohne einen Rabatt-Coupon vorzulegen. „Die gucken an der Kasse immer erstaunt, wenn ich für zwei Euro was kaufe und zehn Prozent Rabatt haben möchte. Aber für mich ist das Geld“, sagt sie und lacht. Clarissa lacht viel. Trotz ihrer existenziellen Sorgen ist sie ein positiver Mensch. „Ich bin gläubig und bete viel“, verrät sie. Das gebe ihr Kraft.

Clarissa lebt in Armut – mit weniger als 700 Euro Rente

Clarissa lebt von weniger als 700 Euro Frührente. Nach den Berechnungen des Sozialamts zu ihrem Bedarf liege sie nur knapp über der Marke, ab der ihr eine Grundsicherung zustünde. „Dann hätte ich 200 Euro mehr“, sagt Clarissa und zuckt mit den Schultern. „Manche Bettler haben mehr als ich.“ Sie akzeptiert das: „400 Euro gehen für die Miete ab, 100 Euro für Strom, Fernsehgebühren, das Konto kostet 9,90 Euro. Meine Versicherungen habe ich gekündigt.“

Clarissa, die in einem sozialen Beruf arbeitete, bis sie arbeitsunfähig wurde, hat vier Kinder groß gezogen. Ihre Ehe wurde geschieden. Ihre Biografie, so resümiert sie, habe zu ihrer prekären Situation geführt.

Armut in Kassel: Clarissa nimmt Unterstützung an

Clarissa hat sich mit ihrer Armut arrangiert und ist sich nicht zu schade, Unterstützung in Anspruch zu nehmen: Sie geht zur Tafel, zu den fahrenden Ärzten, in die Kleiderkammern. Ein Glück sei, dass sie gern kocht. 7,5 Kilo Kartoffeln reichten ihr und ihrem Freund, mit dem sie zusammenwohnt, einen Monat lang. „Ich kann eine leckere Suppe auch ohne Fleisch kochen.“ Zwiebeln angebraten, Knoblauch und alles reingeschnibbelt, was da ist. „Ich schmeiße nichts weg, wenn ich was nicht verwerte, bringe ich es ins Zoohaus Süd.“ Clarissa hat sich Genügsamkeit angewöhnt, weder raucht noch trinkt sie, und sie verkneift sich alles außerhalb der Grundbedürfnisse. Dass sie trotzdem zufrieden sei, liege daran, dass sie eine glückliche Partnerschaft führe. Weihnachten wollen sie und ihr Freund heiraten. Und: ja, doch! Einen unerfüllbaren Wunsch habe sie: Als Hochzeitsreise würden sie so gerne mit dem Zug nach Rom fahren. „Eine Illusion“, sagt Clarissa.

Corona, steigende Lebenshaltungskosten und jetzt die Ukraine-Krise sorgen in Deutschland für eine Armutsquote auf Rekordniveau. Laut einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands vom Dezember 2021 leben rund 14 Millionen Menschen in Deutschland in Armut, das sind 16 Prozent der Bevölkerung. Tendenz steigend. Auch in Hessen und in Kassel hat die Armutsquote mit rund 18 Prozent einen historischen Höchststand erreicht.

Armut in Kassel: Durch steigende Preise und Inflation spitzt sich Krise zu

Weil zurzeit die Preise steigen und die Inflation voranschreitet, spitzt sich die soziale Krise noch zu. Das trifft vor allem untere Einkommensschichten: Die Armen werden immer ärmer.

In Deutschland gelten Menschen als armutsgefährdet, wenn ihnen weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Mit 781 Euro netto oder weniger gilt eine alleinstehende Person als arm.

In Kassel mit seinen über 200.000 Einwohnern sind gegenwärtig mehr als 29.000 Menschen im Sozialleistungsbezug. 22.000 Personen erhalten Leistungen vom Jobcenter, davon 3705 „ergänzende Leistungen“, was bedeutet, dass ihr reguläres Einkommen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt und die Miete zu decken. Rund 7000 Personen erhalten Leistungen vom Sozialamt, davon 4800 „ergänzende Leistungen“.

Kassel bringt „Pakt gegen Armut“ auf den Weg

„Die Aufgabe verantwortlicher sozialer Politik besteht darin, Armut zu verhindern, abzubauen und die Lebenschancen der Betroffenen zu verbessern“, sagt Sozialdezernentin und Bürgermeisterin Ilona Friedrich. In Kassel wird jetzt ein „Pakt gegen Armut“ auf den Weg gebracht. Ziel sei es, „Ressourcen und Aktivitäten wirkungsvoller einzusetzen“. Um selbstbestimmt leben zu können, benötigten arme Menschen eine eigene materielle Basis, so Friedrich. Armutspolitik erschöpfe sich aber nicht in Geldleistungen. „Politik gegen Armut ist auch Bildungs-, Gesundheits-, Infrastruktur- und Arbeitsmarktpolitik. All das müssen wir im Blick haben.“ Dafür soll jetzt eine Plattform geschaffen werden, auf der die Angebote der einzelnen Akteure vernetzt und den Menschen zugänglich gemacht werden. (Christina Hein)

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